thät' ich sogleich weg: -- so aber ists recht fatal und ich verpasse meine besten Eheminuten.
11 Aug.
Die Geschichte Ihres Skept[izismus] ist meine. Im Heerrauchs Jahr wölkte dieser Seelen Heerrauch meine so sehr ein, daß mir keine5 Wissenschaft mehr schmekte und ein Buch mit scharfs[innigem] Unsin[321] las ich lieber als eines mit schlichtem Menschenverstand, weil ich blos noch las, um meine Seele zu üben, nicht aber zu nähren. Zum Glük wurd' ich damals von der Wiz Manie besessen, die mich, um Gegen- stände etc. des Wizes zu haben, durch das neue Interesse zum Licht10 wandte, das ich durch das Wiz Prisma aus Stralen in Farben ver- kehrte. In der Empfindung war ich gläubig; und blos den Schrift- stellern, die mich in iene oft versezten, verdank' ich meine Trans- subst[anziazion]. Zum Unglük war dieser skeptische graue Staar auch in den Augen meiner 2 todten Freunde und ihrer Freunde.15
Ein Hauptgrund meines Skept[izismus] war der: "es giebt für iedes Subjekt keine andre Wahrheit als die gefühlte. Die Säze, bei denen ich das Gefühl ihrer Wahrheit habe, sind meine wahren und es giebt kein andres Kriterium. Da aber dieses nämliche Gefühl auch die Irthümer, die es wiederruft, einmal unterschrieb -- da es20 seine Aussprüche ändert nach Stunde und Alter und Zuständen und Seelen und Ländern und Welttheilen: woher kan ich denn gewis wissen, daß dieses chamäl[eontische] Gefühl morgen oder in 3 Jahren das nicht zurüknehme, was es heute beschwört? Und blieb' es auch beständig: könt' es nicht bei einem Irwahn beständig bleiben? Wer25 steht mir für die Wahrheit dieses Gefühls als das Gefühl selbst? Denn was [man] Gründe nent, ist nur eine verstekte Appellazion an dieses Gefühl: weil einen Grund vorbringen heist zeigen, daß der zu begrün- dende Saz ein Theil, eine Folge etc. eines schon begründeten ist, und der lezte dieser begründeten Säze mus sich allemal, wenn wir [nicht]30 ewig vom Grund des Grundes zum Grund des Grundes des Grundes etc. gewiesen werden sollen, auf blos gefühlte Wahrheit stüzen, weil sonst die ganze Schluskette an nichts hienge." Daraus folgt aber auch die Ungewisheit, ob ich existiere: denn dieses Existenz Postulat ist aufs blosse Gefühl gebaut -- Ich wil hoffen, daß ich existiere: ich wüste auch35 nicht, was Sie an mir lobten, wenn ich gar nichts hätte, nicht einmal Dasein. Indessen nehmen Sie mir, wenn Sie mir die Substanz geben,
20 Jean Paul Briefe. I.
thät’ ich ſogleich weg: — ſo aber iſts recht fatal und ich verpaſſe meine beſten Eheminuten.
11 Aug.
Die Geſchichte Ihres Skept[iziſmus] iſt meine. Im Heerrauchs Jahr wölkte dieſer Seelen Heerrauch meine ſo ſehr ein, daß mir keine5 Wiſſenſchaft mehr ſchmekte und ein Buch mit ſcharfſ[innigem] Unſin[321] las ich lieber als eines mit ſchlichtem Menſchenverſtand, weil ich blos noch las, um meine Seele zu üben, nicht aber zu nähren. Zum Glük wurd’ ich damals von der Wiz Manie beſeſſen, die mich, um Gegen- ſtände ꝛc. des Wizes zu haben, durch das neue Intereſſe zum Licht10 wandte, das ich durch das Wiz Prisma aus Stralen in Farben ver- kehrte. In der Empfindung war ich gläubig; und blos den Schrift- ſtellern, die mich in iene oft verſezten, verdank’ ich meine Trans- ſubſt[anziazion]. Zum Unglük war dieſer ſkeptiſche graue Staar auch in den Augen meiner 2 todten Freunde und ihrer Freunde.15
Ein Hauptgrund meines Skept[iziſmus] war der: „es giebt für iedes Subjekt keine andre Wahrheit als die gefühlte. Die Säze, bei denen ich das Gefühl ihrer Wahrheit habe, ſind meine wahren und es giebt kein andres Kriterium. Da aber dieſes nämliche Gefühl auch die Irthümer, die es wiederruft, einmal unterſchrieb — da es20 ſeine Ausſprüche ändert nach Stunde und Alter und Zuſtänden und Seelen und Ländern und Welttheilen: woher kan ich denn gewis wiſſen, daß dieſes chamäl[eontiſche] Gefühl morgen oder in 3 Jahren das nicht zurüknehme, was es heute beſchwört? Und blieb’ es auch beſtändig: könt’ es nicht bei einem Irwahn beſtändig bleiben? Wer25 ſteht mir für die Wahrheit dieſes Gefühls als das Gefühl ſelbſt? Denn was [man] Gründe nent, iſt nur eine verſtekte Appellazion an dieſes Gefühl: weil einen Grund vorbringen heiſt zeigen, daß der zu begrün- dende Saz ein Theil, eine Folge ꝛc. eines ſchon begründeten iſt, und der lezte dieſer begründeten Säze mus ſich allemal, wenn wir [nicht]30 ewig vom Grund des Grundes zum Grund des Grundes des Grundes ꝛc. gewieſen werden ſollen, auf blos gefühlte Wahrheit ſtüzen, weil ſonſt die ganze Schluskette an nichts hienge.“ Daraus folgt aber auch die Ungewisheit, ob ich exiſtiere: denn dieſes Exiſtenz Poſtulat iſt aufs bloſſe Gefühl gebaut — Ich wil hoffen, daß ich exiſtiere: ich wüſte auch35 nicht, was Sie an mir lobten, wenn ich gar nichts hätte, nicht einmal Daſein. Indeſſen nehmen Sie mir, wenn Sie mir die Subſtanz geben,
20 Jean Paul Briefe. I.
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thät’ ich ſogleich weg: — ſo aber iſts recht fatal und ich verpaſſe meine
beſten Eheminuten.
11 Aug.
Die Geſchichte Ihres Skept[iziſmus] iſt meine. Im Heerrauchs
Jahr wölkte dieſer Seelen Heerrauch meine ſo ſehr ein, daß mir keine 5
Wiſſenſchaft mehr ſchmekte und ein Buch mit ſcharfſ[innigem] Unſin
las ich lieber als eines mit ſchlichtem Menſchenverſtand, weil ich blos
noch las, um meine Seele zu üben, nicht aber zu nähren. Zum Glük
wurd’ ich damals von der Wiz Manie beſeſſen, die mich, um Gegen-
ſtände ꝛc. des Wizes zu haben, durch das neue Intereſſe zum Licht 10
wandte, das ich durch das Wiz Prisma aus Stralen in Farben ver-
kehrte. In der Empfindung war ich gläubig; und blos den Schrift-
ſtellern, die mich in iene oft verſezten, verdank’ ich meine Trans-
ſubſt[anziazion]. Zum Unglük war dieſer ſkeptiſche graue Staar auch
in den Augen meiner 2 todten Freunde und ihrer Freunde. 15
[321]Ein Hauptgrund meines Skept[iziſmus] war der: „es giebt für
iedes Subjekt keine andre Wahrheit als die gefühlte. Die Säze,
bei denen ich das Gefühl ihrer Wahrheit habe, ſind meine wahren
und es giebt kein andres Kriterium. Da aber dieſes nämliche Gefühl
auch die Irthümer, die es wiederruft, einmal unterſchrieb — da es 20
ſeine Ausſprüche ändert nach Stunde und Alter und Zuſtänden und
Seelen und Ländern und Welttheilen: woher kan ich denn gewis wiſſen,
daß dieſes chamäl[eontiſche] Gefühl morgen oder in 3 Jahren das
nicht zurüknehme, was es heute beſchwört? Und blieb’ es auch
beſtändig: könt’ es nicht bei einem Irwahn beſtändig bleiben? Wer 25
ſteht mir für die Wahrheit dieſes Gefühls als das Gefühl ſelbſt? Denn
was [man] Gründe nent, iſt nur eine verſtekte Appellazion an dieſes
Gefühl: weil einen Grund vorbringen heiſt zeigen, daß der zu begrün-
dende Saz ein Theil, eine Folge ꝛc. eines ſchon begründeten iſt, und
der lezte dieſer begründeten Säze mus ſich allemal, wenn wir [nicht] 30
ewig vom Grund des Grundes zum Grund des Grundes des Grundes
ꝛc. gewieſen werden ſollen, auf blos gefühlte Wahrheit ſtüzen, weil
ſonſt die ganze Schluskette an nichts hienge.“ Daraus folgt aber auch
die Ungewisheit, ob ich exiſtiere: denn dieſes Exiſtenz Poſtulat iſt aufs
bloſſe Gefühl gebaut — Ich wil hoffen, daß ich exiſtiere: ich wüſte auch 35
nicht, was Sie an mir lobten, wenn ich gar nichts hätte, nicht einmal
Daſein. Indeſſen nehmen Sie mir, wenn Sie mir die Subſtanz geben,
20 Jean Paul Briefe. I.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/331>, abgerufen am 24.11.2024.
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