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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.

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müssen auch diese andern nicht verlangen, daß man sich wie sie tragen
sol. Bin ich ihnen anstössig, so sind sie mir auch anstössig; das klügste
ist also, nur sich, aber nicht dem Nachbar die Schellenkappe zuzuschneiden.

Überhaupt halte ich die beständige Rüksicht, die wir in allen unsern[102]
Handlungen auf fremde Urteile nemen, für das Gift unsrer Ruhe,5
unsrer Vernunft und unsrer Tugend. An dieser Sklavenkette hab' ich
lange gefeilt; aber ich hoffe kaum, sie iemals ganz zu zerreissen. So
begehe ich z. B. eben darum in Leipzig mit Absicht sonderbare Hand-
lungen, um mich an den Tadel andrer zu gewönen; und scheine ein
Nar, um die Narren ertragen zu lernen. Hierin sind Sie andrer10
Meinung, das weis ich; aber ich wolte Sie durch diesen Brief auch
nicht bekeren, sondern mich nur rechtfertigen. Immerhin mögen Sie
künftig glauben, daß ich aus falschen Gründen handle; wenn Sie nur
nicht glauben, daß ich one Gründe handle. -- Überhaupt scheint mir
dieser ganze Brief so lächerlich, daß ich mich vor mir selbst wegen den[!]15
Inhalt desselben nur durch Ihr Beispiel entschuldigen kan. Durch eben
dasselbe werden Sie die Freimütigkeit desselben entschuldigen. Sie
erschrekten mich mit einem so lauten "Schach dem König!" daß ich
über das Spiel den Spieler vergas und nichts zu verhüten suchte als
die Enttronung meines Königs. Da übrigens das Disputiren in sovielen20
Stükken mit dem Schachspielen übereinkomt: indem man dort Ideen
auf Papier, und da hölzerne Figuren auf dem Bret gegeneinander zu
Felde stelt; so hoffe ich, daß die beiden Sachen auch darinnen einander
änlich bleiben werden, daß sie die Entzweiung der Spieler nicht über die
Dauer der Veranlassung verlängern. Die besten Freunde zanken sich25
bei dem Spiel; allein sobald die Spieler das Schachbret -- den
campus martius -- zur Aufbewarung der versönten Krieger zu-
geschlossen, so schliessen sie ihre Herzen auf und trinken in freund-
schaftlicher Gesprächigkeit das bittre Lagerbier mit der Aufmerksam-
keit, der sie vorher nur das Spiel gewürdigt. Das Gegenbild zu diesem30
Gleichnis darf nicht blos Ihren, es wird auch meinen Brief ver-
schönern; und selbst, wenn Sie Ihre Toleranz nur auf heterodoxe
Meinungen, nicht auf heterodoxe Kleidungen ausdenten, so würd' ich
Sie im ersten zu ser nachamen, als daß ich Sie im andern nachamen und
gegen die nicht tolerant sein solte, die es nicht sind.35

Dem Präludium Ihres Briefs bin ich auch ein kleines Akkom-
pagnement schuldig. Die Leute, die Sie Mükken nennen, werd' ich nie

müſſen auch dieſe andern nicht verlangen, daß man ſich wie ſie tragen
ſol. Bin ich ihnen anſtöſſig, ſo ſind ſie mir auch anſtöſſig; das klügſte
iſt alſo, nur ſich, aber nicht dem Nachbar die Schellenkappe zuzuſchneiden.

Überhaupt halte ich die beſtändige Rükſicht, die wir in allen unſern[102]
Handlungen auf fremde Urteile nemen, für das Gift unſrer Ruhe,5
unſrer Vernunft und unſrer Tugend. An dieſer Sklavenkette hab’ ich
lange gefeilt; aber ich hoffe kaum, ſie iemals ganz zu zerreiſſen. So
begehe ich z. B. eben darum in Leipzig mit Abſicht ſonderbare Hand-
lungen, um mich an den Tadel andrer zu gewönen; und ſcheine ein
Nar, um die Narren ertragen zu lernen. Hierin ſind Sie andrer10
Meinung, das weis ich; aber ich wolte Sie durch dieſen Brief auch
nicht bekeren, ſondern mich nur rechtfertigen. Immerhin mögen Sie
künftig glauben, daß ich aus falſchen Gründen handle; wenn Sie nur
nicht glauben, daß ich one Gründe handle. — Überhaupt ſcheint mir
dieſer ganze Brief ſo lächerlich, daß ich mich vor mir ſelbſt wegen den[!]15
Inhalt deſſelben nur durch Ihr Beiſpiel entſchuldigen kan. Durch eben
daſſelbe werden Sie die Freimütigkeit deſſelben entſchuldigen. Sie
erſchrekten mich mit einem ſo lauten „Schach dem König!“ daß ich
über das Spiel den Spieler vergas und nichts zu verhüten ſuchte als
die Enttronung meines Königs. Da übrigens das Diſputiren in ſovielen20
Stükken mit dem Schachſpielen übereinkomt: indem man dort Ideen
auf Papier, und da hölzerne Figuren auf dem Bret gegeneinander zu
Felde ſtelt; ſo hoffe ich, daß die beiden Sachen auch darinnen einander
änlich bleiben werden, daß ſie die Entzweiung der Spieler nicht über die
Dauer der Veranlaſſung verlängern. Die beſten Freunde zanken ſich25
bei dem Spiel; allein ſobald die Spieler das Schachbret — den
campus martius — zur Aufbewarung der verſönten Krieger zu-
geſchloſſen, ſo ſchlieſſen ſie ihre Herzen auf und trinken in freund-
ſchaftlicher Geſprächigkeit das bittre Lagerbier mit der Aufmerkſam-
keit, der ſie vorher nur das Spiel gewürdigt. Das Gegenbild zu dieſem30
Gleichnis darf nicht blos Ihren, es wird auch meinen Brief ver-
ſchönern; und ſelbſt, wenn Sie Ihre Toleranz nur auf heterodoxe
Meinungen, nicht auf heterodoxe Kleidungen ausdenten, ſo würd’ ich
Sie im erſten zu ſer nachamen, als daß ich Sie im andern nachamen und
gegen die nicht tolerant ſein ſolte, die es nicht ſind.35

Dem Präludium Ihres Briefs bin ich auch ein kleines Akkom-
pagnement ſchuldig. Die Leute, die Sie Mükken nennen, werd’ ich nie

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[95/0118] müſſen auch dieſe andern nicht verlangen, daß man ſich wie ſie tragen ſol. Bin ich ihnen anſtöſſig, ſo ſind ſie mir auch anſtöſſig; das klügſte iſt alſo, nur ſich, aber nicht dem Nachbar die Schellenkappe zuzuſchneiden. Überhaupt halte ich die beſtändige Rükſicht, die wir in allen unſern Handlungen auf fremde Urteile nemen, für das Gift unſrer Ruhe, 5 unſrer Vernunft und unſrer Tugend. An dieſer Sklavenkette hab’ ich lange gefeilt; aber ich hoffe kaum, ſie iemals ganz zu zerreiſſen. So begehe ich z. B. eben darum in Leipzig mit Abſicht ſonderbare Hand- lungen, um mich an den Tadel andrer zu gewönen; und ſcheine ein Nar, um die Narren ertragen zu lernen. Hierin ſind Sie andrer 10 Meinung, das weis ich; aber ich wolte Sie durch dieſen Brief auch nicht bekeren, ſondern mich nur rechtfertigen. Immerhin mögen Sie künftig glauben, daß ich aus falſchen Gründen handle; wenn Sie nur nicht glauben, daß ich one Gründe handle. — Überhaupt ſcheint mir dieſer ganze Brief ſo lächerlich, daß ich mich vor mir ſelbſt wegen den[!] 15 Inhalt deſſelben nur durch Ihr Beiſpiel entſchuldigen kan. Durch eben daſſelbe werden Sie die Freimütigkeit deſſelben entſchuldigen. Sie erſchrekten mich mit einem ſo lauten „Schach dem König!“ daß ich über das Spiel den Spieler vergas und nichts zu verhüten ſuchte als die Enttronung meines Königs. Da übrigens das Diſputiren in ſovielen 20 Stükken mit dem Schachſpielen übereinkomt: indem man dort Ideen auf Papier, und da hölzerne Figuren auf dem Bret gegeneinander zu Felde ſtelt; ſo hoffe ich, daß die beiden Sachen auch darinnen einander änlich bleiben werden, daß ſie die Entzweiung der Spieler nicht über die Dauer der Veranlaſſung verlängern. Die beſten Freunde zanken ſich 25 bei dem Spiel; allein ſobald die Spieler das Schachbret — den campus martius — zur Aufbewarung der verſönten Krieger zu- geſchloſſen, ſo ſchlieſſen ſie ihre Herzen auf und trinken in freund- ſchaftlicher Geſprächigkeit das bittre Lagerbier mit der Aufmerkſam- keit, der ſie vorher nur das Spiel gewürdigt. Das Gegenbild zu dieſem 30 Gleichnis darf nicht blos Ihren, es wird auch meinen Brief ver- ſchönern; und ſelbſt, wenn Sie Ihre Toleranz nur auf heterodoxe Meinungen, nicht auf heterodoxe Kleidungen ausdenten, ſo würd’ ich Sie im erſten zu ſer nachamen, als daß ich Sie im andern nachamen und gegen die nicht tolerant ſein ſolte, die es nicht ſind. 35 [102]Dem Präludium Ihres Briefs bin ich auch ein kleines Akkom- pagnement ſchuldig. Die Leute, die Sie Mükken nennen, werd’ ich nie

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T14:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T14:52:17Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/118>, abgerufen am 22.11.2024.