"Die Kunst ist lang, das Leben kurz" konnte noch Hippokrates sagen; jetzt ist die Kunst schon weit länger, und das Leben noch weit kürzer. Allerlei Schulen giebt's, fürs Leben ei¬ gentlich keine, als es selbst. Doch bleiben von der Ansteckung der Verderbniß diejenigen am Häufigsten frei, so die Jugend in dem reinen Lebenskreise der Häuslichkeit vollbrachten. Jm¬ mer aber wird der Mensch ausgesteuert mit zu vielen Verhaltungsregeln für das, was nur äu¬ ßerst selten vorkommt; darüber werden Beleh¬ rungen vergessen über das, was jedem Erden¬ sohn tagtäglich begegnen kann. So folgt auf frühes Lossprechen von den Lehrjahren das Durchschadengewitzigtwerden, und wohl dem Menschen, dem es noch so gut wird. Zahlrei¬ cher sind die Unglücklichen, die in dem Beding¬ ten ihrer einzelnen Erfahrungen das Urwahre gefunden zu haben meinen, und dann an dem Menschen und der Menschheit verzweifeln. So
viel
3. Vorurtheile.
a)Lebensanſichten.
„Die Kunſt iſt lang, das Leben kurz“ konnte noch Hippokrates ſagen; jetzt iſt die Kunſt ſchon weit länger, und das Leben noch weit kürzer. Allerlei Schulen giebt's, fürs Leben ei¬ gentlich keine, als es ſelbſt. Doch bleiben von der Anſteckung der Verderbniß diejenigen am Häufigſten frei, ſo die Jugend in dem reinen Lebenskreiſe der Häuslichkeit vollbrachten. Jm¬ mer aber wird der Menſch ausgeſteuert mit zu vielen Verhaltungsregeln für das, was nur äu¬ ßerſt ſelten vorkommt; darüber werden Beleh¬ rungen vergeſſen über das, was jedem Erden¬ ſohn tagtäglich begegnen kann. So folgt auf frühes Losſprechen von den Lehrjahren das Durchſchadengewitzigtwerden, und wohl dem Menſchen, dem es noch ſo gut wird. Zahlrei¬ cher ſind die Unglücklichen, die in dem Beding¬ ten ihrer einzelnen Erfahrungen das Urwahre gefunden zu haben meinen, und dann an dem Menſchen und der Menſchheit verzweifeln. So
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3. Vorurtheile.
a) Lebensanſichten.
„Die Kunſt iſt lang, das Leben kurz“
konnte noch Hippokrates ſagen; jetzt iſt die Kunſt
ſchon weit länger, und das Leben noch weit
kürzer. Allerlei Schulen giebt's, fürs Leben ei¬
gentlich keine, als es ſelbſt. Doch bleiben von
der Anſteckung der Verderbniß diejenigen am
Häufigſten frei, ſo die Jugend in dem reinen
Lebenskreiſe der Häuslichkeit vollbrachten. Jm¬
mer aber wird der Menſch ausgeſteuert mit zu
vielen Verhaltungsregeln für das, was nur äu¬
ßerſt ſelten vorkommt; darüber werden Beleh¬
rungen vergeſſen über das, was jedem Erden¬
ſohn tagtäglich begegnen kann. So folgt auf
frühes Losſprechen von den Lehrjahren das
Durchſchadengewitzigtwerden, und wohl dem
Menſchen, dem es noch ſo gut wird. Zahlrei¬
cher ſind die Unglücklichen, die in dem Beding¬
ten ihrer einzelnen Erfahrungen das Urwahre
gefunden zu haben meinen, und dann an dem
Menſchen und der Menſchheit verzweifeln. So
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Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volksthum. Lübeck, 1810, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_volksthum_1810/446>, abgerufen am 22.11.2024.
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