Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 2. Göttingen, 1745.

Bild:
<< vorherige Seite



zufrieden seyn, und sucht, in demselben der
wahren Vollkommenheit immer näher zu
kommen. Die starcken Geister aber, so
wir nahmhafft gemacht haben, halten die-
se Gestalt für unanständig, die sich wenig-
stens für sie gantz und gar nicht schicke.
Sie halten ihre Tugenden für so groß, daß
sie die grössesten Laster bedecken, und auch
so gar vor GOtt unsichtbar machen kön-
nen. Eine gantz geringe Liebe ist für das
höchste Wesen schon genug. Und wenn
sie so viel die göttlichen Gesetze beobachten,
als ihre unordentlichen Neigungen und der
verderbte Geschmack der Welt zulässet, so
ist dieses schon ein grosses Verdienst. Wenn
sie des Morgens einige Stunden nüchtern
sind, so macht selbiges alle Unmäßigkeit gut,
die vom Mittage bis in die späteste Nacht
betrieben wird. Sie sind vollkommen,
oder wenigstens gut genug. Einige ha-
ben gar noch etwas übrig. Sie sind dero-
wegen um die fernere Erleuchtung ihres
Verstandes und um die beständige Besse-
rung ihres Willens keinesweges beküm-
mert, sondern bleiben in ihrem natürlichen
Verfall. Sie haben nicht das geringste
unangenehme Gefühl von ihrer Unvoll-

kommen-



zufrieden ſeyn, und ſucht, in demſelben der
wahren Vollkommenheit immer naͤher zu
kommen. Die ſtarcken Geiſter aber, ſo
wir nahmhafft gemacht haben, halten die-
ſe Geſtalt fuͤr unanſtaͤndig, die ſich wenig-
ſtens fuͤr ſie gantz und gar nicht ſchicke.
Sie halten ihre Tugenden fuͤr ſo groß, daß
ſie die groͤſſeſten Laſter bedecken, und auch
ſo gar vor GOtt unſichtbar machen koͤn-
nen. Eine gantz geringe Liebe iſt fuͤr das
hoͤchſte Weſen ſchon genug. Und wenn
ſie ſo viel die goͤttlichen Geſetze beobachten,
als ihre unordentlichen Neigungen und der
verderbte Geſchmack der Welt zulaͤſſet, ſo
iſt dieſes ſchon ein groſſes Verdienſt. Wenn
ſie des Morgens einige Stunden nuͤchtern
ſind, ſo macht ſelbiges alle Unmaͤßigkeit gut,
die vom Mittage bis in die ſpaͤteſte Nacht
betrieben wird. Sie ſind vollkommen,
oder wenigſtens gut genug. Einige ha-
ben gar noch etwas uͤbrig. Sie ſind dero-
wegen um die fernere Erleuchtung ihres
Verſtandes und um die beſtaͤndige Beſſe-
rung ihres Willens keinesweges bekuͤm-
mert, ſondern bleiben in ihrem natuͤrlichen
Verfall. Sie haben nicht das geringſte
unangenehme Gefuͤhl von ihrer Unvoll-

kommen-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0417" n="399"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
zufrieden &#x017F;eyn, und &#x017F;ucht, in dem&#x017F;elben der<lb/>
wahren Vollkommenheit immer na&#x0364;her zu<lb/>
kommen. Die &#x017F;tarcken Gei&#x017F;ter aber, &#x017F;o<lb/>
wir nahmhafft gemacht haben, halten die-<lb/>
&#x017F;e Ge&#x017F;talt fu&#x0364;r unan&#x017F;ta&#x0364;ndig, die &#x017F;ich wenig-<lb/>
&#x017F;tens fu&#x0364;r &#x017F;ie gantz und gar nicht &#x017F;chicke.<lb/>
Sie halten ihre Tugenden fu&#x0364;r &#x017F;o groß, daß<lb/>
&#x017F;ie die gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten La&#x017F;ter bedecken, und auch<lb/>
&#x017F;o gar vor GOtt un&#x017F;ichtbar machen ko&#x0364;n-<lb/>
nen. Eine gantz geringe Liebe i&#x017F;t fu&#x0364;r das<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;te We&#x017F;en &#x017F;chon genug. Und wenn<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;o viel die go&#x0364;ttlichen Ge&#x017F;etze beobachten,<lb/>
als ihre unordentlichen Neigungen und der<lb/>
verderbte Ge&#x017F;chmack der Welt zula&#x0364;&#x017F;&#x017F;et, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t die&#x017F;es &#x017F;chon ein gro&#x017F;&#x017F;es Verdien&#x017F;t. Wenn<lb/>
&#x017F;ie des Morgens einige Stunden nu&#x0364;chtern<lb/>
&#x017F;ind, &#x017F;o macht &#x017F;elbiges alle Unma&#x0364;ßigkeit gut,<lb/>
die vom Mittage bis in die &#x017F;pa&#x0364;te&#x017F;te Nacht<lb/>
betrieben wird. Sie &#x017F;ind vollkommen,<lb/>
oder wenig&#x017F;tens gut genug. Einige ha-<lb/>
ben gar noch etwas u&#x0364;brig. Sie &#x017F;ind dero-<lb/>
wegen um die fernere Erleuchtung ihres<lb/>
Ver&#x017F;tandes und um die be&#x017F;ta&#x0364;ndige Be&#x017F;&#x017F;e-<lb/>
rung ihres Willens keinesweges beku&#x0364;m-<lb/>
mert, &#x017F;ondern bleiben in ihrem natu&#x0364;rlichen<lb/>
Verfall. Sie haben nicht das gering&#x017F;te<lb/>
unangenehme Gefu&#x0364;hl von ihrer Unvoll-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">kommen-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0417] zufrieden ſeyn, und ſucht, in demſelben der wahren Vollkommenheit immer naͤher zu kommen. Die ſtarcken Geiſter aber, ſo wir nahmhafft gemacht haben, halten die- ſe Geſtalt fuͤr unanſtaͤndig, die ſich wenig- ſtens fuͤr ſie gantz und gar nicht ſchicke. Sie halten ihre Tugenden fuͤr ſo groß, daß ſie die groͤſſeſten Laſter bedecken, und auch ſo gar vor GOtt unſichtbar machen koͤn- nen. Eine gantz geringe Liebe iſt fuͤr das hoͤchſte Weſen ſchon genug. Und wenn ſie ſo viel die goͤttlichen Geſetze beobachten, als ihre unordentlichen Neigungen und der verderbte Geſchmack der Welt zulaͤſſet, ſo iſt dieſes ſchon ein groſſes Verdienſt. Wenn ſie des Morgens einige Stunden nuͤchtern ſind, ſo macht ſelbiges alle Unmaͤßigkeit gut, die vom Mittage bis in die ſpaͤteſte Nacht betrieben wird. Sie ſind vollkommen, oder wenigſtens gut genug. Einige ha- ben gar noch etwas uͤbrig. Sie ſind dero- wegen um die fernere Erleuchtung ihres Verſtandes und um die beſtaͤndige Beſſe- rung ihres Willens keinesweges bekuͤm- mert, ſondern bleiben in ihrem natuͤrlichen Verfall. Sie haben nicht das geringſte unangenehme Gefuͤhl von ihrer Unvoll- kommen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen02_1745
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen02_1745/417
Zitationshilfe: Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 2. Göttingen, 1745, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_betrachtungen02_1745/417>, abgerufen am 23.11.2024.