Jacobi, Johann Friedrich: Betrachtungen über die Weisen Absichten Gottes, bey denen Dingen, die wir in der menschlichen Gesellschaft und der Offenbahrung antreffen. Bd. 1. Göttingen, 1741.gecreutzigte Christus göttliche Kraft und Weißheit genant wird. Wir le- sen dieses 1 Cor. Cap. I. v. 23. 24. Wir predigen den gecreutzigten Chri- sehen, wie weit sich auch einige von den
Weisesten vergangen und welche Hirn- gespinste sie zur Welt gebracht, wenn sie sich hierinne zuviel zugetrauet. Und was ist dieses Wunder? Wir haben in der Application oder Praxi noch kein ander Kennzeichen des Möglichen und Unmög- lichen als dieses: was sich nach unser Einsicht und angenommenen Sätzen selbst oder andern Dingen, welche wir für wahr halten, wiederspricht, das ist unmöglich, was aber solcher Gestalt kei- nen Wiederspruch in sich enthält, das ist möglich. Wie leicht aber können wir in unserer Einsicht und Ueberlegung fehlen, welcher Mensch kan sich rühmen, daß er keine falsche Sätze für Wahrheiten an- nehme, und wie leicht kan man daher auch nicht das Mögliche mit dem Un- möglichen verwechseln? Die Erfahrung lehret, daß dieses den grösten Gelehrten begegnet. Man urtheile hieraus, wie behutsam man billig gehen solte, wenn man wolte sagen, es sey etwas den Voll- kommenheiten GOttes gemäß oder nicht. Man erwege nur, wie manches in der Welt nicht seyn und geschehen würde, wann GOTT uns vorher fragen solte, ob dieses und jenes auch seinen Eigen- schaften anständig und wol zu der gan- tzen gecreutzigte Chriſtus goͤttliche Kraft und Weißheit genant wird. Wir le- ſen dieſes 1 Cor. Cap. I. v. 23. 24. Wir predigen den gecreutzigten Chri- ſehen, wie weit ſich auch einige von den
Weiſeſten vergangen und welche Hirn- geſpinſte ſie zur Welt gebracht, wenn ſie ſich hierinne zuviel zugetrauet. Und was iſt dieſes Wunder? Wir haben in der Application oder Praxi noch kein ander Kennzeichen des Moͤglichen und Unmoͤg- lichen als dieſes: was ſich nach unſer Einſicht und angenommenen Saͤtzen ſelbſt oder andern Dingen, welche wir fuͤr wahr halten, wiederſpricht, das iſt unmoͤglich, was aber ſolcher Geſtalt kei- nen Wiederſpruch in ſich enthaͤlt, das iſt moͤglich. Wie leicht aber koͤnnen wir in unſerer Einſicht und Ueberlegung fehlen, welcher Menſch kan ſich ruͤhmen, daß er keine falſche Saͤtze fuͤr Wahrheiten an- nehme, und wie leicht kan man daher auch nicht das Moͤgliche mit dem Un- moͤglichen verwechſeln? Die Erfahrung lehret, daß dieſes den groͤſten Gelehrten begegnet. Man urtheile hieraus, wie behutſam man billig gehen ſolte, wenn man wolte ſagen, es ſey etwas den Voll- kommenheiten GOttes gemaͤß oder nicht. Man erwege nur, wie manches in der Welt nicht ſeyn und geſchehen wuͤrde, wann GOTT uns vorher fragen ſolte, ob dieſes und jenes auch ſeinen Eigen- ſchaften anſtaͤndig und wol zu der gan- tzen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0428" n="396[392]"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> gecreutzigte Chriſtus <hi rendition="#fr">goͤttliche Kraft<lb/> und Weißheit</hi> genant wird. Wir le-<lb/> ſen dieſes 1 Cor. Cap. <hi rendition="#aq">I.</hi> v. 23. 24.<lb/><hi rendition="#fr">Wir predigen den gecreutzigten</hi><lb/> <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Chri-</hi></fw><lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><note next="#a53" xml:id="a52" prev="#a51" place="foot" n="(*)">ſehen, wie weit ſich auch einige von den<lb/> Weiſeſten vergangen und welche Hirn-<lb/> geſpinſte ſie zur Welt gebracht, wenn ſie<lb/> ſich hierinne zuviel zugetrauet. Und was<lb/> iſt dieſes Wunder? Wir haben in der<lb/> Application oder Praxi noch kein ander<lb/> Kennzeichen des Moͤglichen und Unmoͤg-<lb/> lichen als dieſes: was ſich nach unſer<lb/> Einſicht und angenommenen Saͤtzen<lb/> ſelbſt oder andern Dingen, welche wir<lb/> fuͤr wahr halten, wiederſpricht, das iſt<lb/> unmoͤglich, was aber ſolcher Geſtalt kei-<lb/> nen Wiederſpruch in ſich enthaͤlt, das iſt<lb/> moͤglich. Wie leicht aber koͤnnen wir in<lb/> unſerer Einſicht und Ueberlegung fehlen,<lb/> welcher Menſch kan ſich ruͤhmen, daß er<lb/> keine falſche Saͤtze fuͤr Wahrheiten an-<lb/> nehme, und wie leicht kan man daher<lb/> auch nicht das Moͤgliche mit dem Un-<lb/> moͤglichen verwechſeln? Die Erfahrung<lb/> lehret, daß dieſes den groͤſten Gelehrten<lb/> begegnet. Man urtheile hieraus, wie<lb/> behutſam man billig gehen ſolte, wenn<lb/> man wolte ſagen, es ſey etwas den Voll-<lb/> kommenheiten GOttes gemaͤß oder nicht.<lb/> Man erwege nur, wie manches in der<lb/> Welt nicht ſeyn und geſchehen wuͤrde,<lb/> wann GOTT uns vorher fragen ſolte,<lb/> ob dieſes und jenes auch ſeinen Eigen-<lb/> ſchaften anſtaͤndig und wol zu der gan-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">tzen</fw></note><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [396[392]/0428]
gecreutzigte Chriſtus goͤttliche Kraft
und Weißheit genant wird. Wir le-
ſen dieſes 1 Cor. Cap. I. v. 23. 24.
Wir predigen den gecreutzigten
Chri-
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(*) ſehen, wie weit ſich auch einige von den
Weiſeſten vergangen und welche Hirn-
geſpinſte ſie zur Welt gebracht, wenn ſie
ſich hierinne zuviel zugetrauet. Und was
iſt dieſes Wunder? Wir haben in der
Application oder Praxi noch kein ander
Kennzeichen des Moͤglichen und Unmoͤg-
lichen als dieſes: was ſich nach unſer
Einſicht und angenommenen Saͤtzen
ſelbſt oder andern Dingen, welche wir
fuͤr wahr halten, wiederſpricht, das iſt
unmoͤglich, was aber ſolcher Geſtalt kei-
nen Wiederſpruch in ſich enthaͤlt, das iſt
moͤglich. Wie leicht aber koͤnnen wir in
unſerer Einſicht und Ueberlegung fehlen,
welcher Menſch kan ſich ruͤhmen, daß er
keine falſche Saͤtze fuͤr Wahrheiten an-
nehme, und wie leicht kan man daher
auch nicht das Moͤgliche mit dem Un-
moͤglichen verwechſeln? Die Erfahrung
lehret, daß dieſes den groͤſten Gelehrten
begegnet. Man urtheile hieraus, wie
behutſam man billig gehen ſolte, wenn
man wolte ſagen, es ſey etwas den Voll-
kommenheiten GOttes gemaͤß oder nicht.
Man erwege nur, wie manches in der
Welt nicht ſeyn und geſchehen wuͤrde,
wann GOTT uns vorher fragen ſolte,
ob dieſes und jenes auch ſeinen Eigen-
ſchaften anſtaͤndig und wol zu der gan-
tzen
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