de noch mehr gemeiner Vorschriften dreht. All- zu oft muß er sein gegenwärtiges Gefühl unter- drücken, ihm nicht glauben, nicht trauen wol- len; folglich blos nach dem Buchstaben han- deln. Umgeht, verdreht er das Gesetz, so wird der Kerl ein Heuchler, ein Schurke; unterwirft er sich ihm redlich -- so kommt er allmählich um Sinn und Gefühl -- wird, je höher er die Fertigkeit seiner Tugend treibt, desto kälter, geschmackloser; gehorcht immer nur (blindlings oder sehend -- wie es kommt) seinem ehmaligen Willen, hat aber jetzt kei- nen eigenen Willen mehr; kann sich hinfort nie weiter über sich selbst empor schwingen.
Wir wissen, daß, der allgemeinen Sicher- heit wegen, jeder Richter nach dem dürren Buchstaben der Gesetze urtheilen, und für jede andre Betrachtung blind seyn muß; daher denn oft die abscheulichsten Unthaten gerichtlich bestä- tiget werden, weil der Bösewicht nicht gegen den Buchstaben des Gesetzes gehandelt, und er die Form der Procedur zu seinem Schutze
de noch mehr gemeiner Vorſchriften dreht. All- zu oft muß er ſein gegenwaͤrtiges Gefuͤhl unter- druͤcken, ihm nicht glauben, nicht trauen wol- len; folglich blos nach dem Buchſtaben han- deln. Umgeht, verdreht er das Geſetz, ſo wird der Kerl ein Heuchler, ein Schurke; unterwirft er ſich ihm redlich — ſo kommt er allmaͤhlich um Sinn und Gefuͤhl — wird, je hoͤher er die Fertigkeit ſeiner Tugend treibt, deſto kaͤlter, geſchmackloſer; gehorcht immer nur (blindlings oder ſehend — wie es kommt) ſeinem ehmaligen Willen, hat aber jetzt kei- nen eigenen Willen mehr; kann ſich hinfort nie weiter uͤber ſich ſelbſt empor ſchwingen.
Wir wiſſen, daß, der allgemeinen Sicher- heit wegen, jeder Richter nach dem duͤrren Buchſtaben der Geſetze urtheilen, und fuͤr jede andre Betrachtung blind ſeyn muß; daher denn oft die abſcheulichſten Unthaten gerichtlich beſtaͤ- tiget werden, weil der Boͤſewicht nicht gegen den Buchſtaben des Geſetzes gehandelt, und er die Form der Procedur zu ſeinem Schutze
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0273"n="235"/>
de noch mehr gemeiner Vorſchriften dreht. All-<lb/>
zu oft muß er ſein gegenwaͤrtiges Gefuͤhl unter-<lb/>
druͤcken, ihm nicht glauben, nicht trauen wol-<lb/>
len; folglich blos nach dem <hirendition="#g">Buchſtaben</hi> han-<lb/>
deln. <hirendition="#g">Umgeht, verdreht</hi> er das Geſetz,<lb/>ſo wird der Kerl ein Heuchler, ein Schurke;<lb/>
unterwirft er ſich ihm redlich —ſo kommt er<lb/>
allmaͤhlich um Sinn und Gefuͤhl — wird, je<lb/>
hoͤher er die Fertigkeit ſeiner Tugend treibt,<lb/>
deſto kaͤlter, geſchmackloſer; gehorcht immer<lb/>
nur (blindlings oder ſehend — wie es kommt)<lb/>ſeinem <hirendition="#g">ehmaligen</hi> Willen, hat aber jetzt kei-<lb/>
nen eigenen Willen mehr; kann ſich hinfort<lb/>
nie weiter uͤber ſich ſelbſt empor ſchwingen.</p><lb/><p>Wir wiſſen, daß, der allgemeinen Sicher-<lb/>
heit wegen, jeder Richter nach dem duͤrren<lb/>
Buchſtaben der Geſetze urtheilen, und fuͤr jede<lb/>
andre Betrachtung blind ſeyn muß; daher denn<lb/>
oft die abſcheulichſten Unthaten gerichtlich beſtaͤ-<lb/>
tiget werden, weil der Boͤſewicht nicht gegen<lb/>
den <hirendition="#g">Buchſtaben</hi> des Geſetzes gehandelt, und er<lb/>
die <hirendition="#g">Form der Procedur</hi> zu ſeinem Schutze<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[235/0273]
de noch mehr gemeiner Vorſchriften dreht. All-
zu oft muß er ſein gegenwaͤrtiges Gefuͤhl unter-
druͤcken, ihm nicht glauben, nicht trauen wol-
len; folglich blos nach dem Buchſtaben han-
deln. Umgeht, verdreht er das Geſetz,
ſo wird der Kerl ein Heuchler, ein Schurke;
unterwirft er ſich ihm redlich — ſo kommt er
allmaͤhlich um Sinn und Gefuͤhl — wird, je
hoͤher er die Fertigkeit ſeiner Tugend treibt,
deſto kaͤlter, geſchmackloſer; gehorcht immer
nur (blindlings oder ſehend — wie es kommt)
ſeinem ehmaligen Willen, hat aber jetzt kei-
nen eigenen Willen mehr; kann ſich hinfort
nie weiter uͤber ſich ſelbſt empor ſchwingen.
Wir wiſſen, daß, der allgemeinen Sicher-
heit wegen, jeder Richter nach dem duͤrren
Buchſtaben der Geſetze urtheilen, und fuͤr jede
andre Betrachtung blind ſeyn muß; daher denn
oft die abſcheulichſten Unthaten gerichtlich beſtaͤ-
tiget werden, weil der Boͤſewicht nicht gegen
den Buchſtaben des Geſetzes gehandelt, und er
die Form der Procedur zu ſeinem Schutze
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jacobi, Friedrich Heinrich: Eduard Allwills Briefsammlung. Mit einer Zugabe von eigenen Briefen. Königsberg, 1792, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jacobi_allwill_1792/273>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.