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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839.

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gen mit ihren Schmerzen ersticken lassen! Und
doch mußte sie vor ihm fliehen, unerreichbar weg,
denn trat er in das Zimmer und heftete er seinen
Blick auf sie, so war es um sie geschehen, das
fühlte sie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen
sehend, schwankte sie aus dem Zimmer und wählte
den Versteck, der sich ihren irren Sinnen zunächst
darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja
nicht zu ihren Pflegern gegangen seyn würde, wenn
er es übel mit ihr meinte, kam in die gestörte Seele.

Denn die Liebe ist, ungerüttelt, göttlicher
Scharfsinn. Die Blitze ihrer Ahnung sehen
das Verborgenste, sie gleicht dem Wunder-
rosse, welches Mahomet zwischen dem Umstürzen
und Auslaufen eines Wasserkruges durch alle sieben
Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines
Jeden zeigte -- verstört, in falsche Bahnen gelenkt,
ist sie Wahnsinn, der bei Domen vorübergeht,
ohne sie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für
Alpengipfel ansieht.

Oswald betrat unten das Haus. Er hätte
nie gedacht, daß er über eine Schwelle so scheu
wie ein Sünder würde schreiten müssen. Ein
grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen-

Immermann's Münchhausen. 4. Th. 6

gen mit ihren Schmerzen erſticken laſſen! Und
doch mußte ſie vor ihm fliehen, unerreichbar weg,
denn trat er in das Zimmer und heftete er ſeinen
Blick auf ſie, ſo war es um ſie geſchehen, das
fühlte ſie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen
ſehend, ſchwankte ſie aus dem Zimmer und wählte
den Verſteck, der ſich ihren irren Sinnen zunächſt
darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja
nicht zu ihren Pflegern gegangen ſeyn würde, wenn
er es übel mit ihr meinte, kam in die geſtörte Seele.

Denn die Liebe iſt, ungerüttelt, göttlicher
Scharfſinn. Die Blitze ihrer Ahnung ſehen
das Verborgenſte, ſie gleicht dem Wunder-
roſſe, welches Mahomet zwiſchen dem Umſtürzen
und Auslaufen eines Waſſerkruges durch alle ſieben
Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines
Jeden zeigte — verſtört, in falſche Bahnen gelenkt,
iſt ſie Wahnſinn, der bei Domen vorübergeht,
ohne ſie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für
Alpengipfel anſieht.

Oswald betrat unten das Haus. Er hätte
nie gedacht, daß er über eine Schwelle ſo ſcheu
wie ein Sünder würde ſchreiten müſſen. Ein
grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen-

Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 6
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[81/0093] gen mit ihren Schmerzen erſticken laſſen! Und doch mußte ſie vor ihm fliehen, unerreichbar weg, denn trat er in das Zimmer und heftete er ſeinen Blick auf ſie, ſo war es um ſie geſchehen, das fühlte ſie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen ſehend, ſchwankte ſie aus dem Zimmer und wählte den Verſteck, der ſich ihren irren Sinnen zunächſt darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja nicht zu ihren Pflegern gegangen ſeyn würde, wenn er es übel mit ihr meinte, kam in die geſtörte Seele. Denn die Liebe iſt, ungerüttelt, göttlicher Scharfſinn. Die Blitze ihrer Ahnung ſehen das Verborgenſte, ſie gleicht dem Wunder- roſſe, welches Mahomet zwiſchen dem Umſtürzen und Auslaufen eines Waſſerkruges durch alle ſieben Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines Jeden zeigte — verſtört, in falſche Bahnen gelenkt, iſt ſie Wahnſinn, der bei Domen vorübergeht, ohne ſie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für Alpengipfel anſieht. Oswald betrat unten das Haus. Er hätte nie gedacht, daß er über eine Schwelle ſo ſcheu wie ein Sünder würde ſchreiten müſſen. Ein grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen- Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 6

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/93>, abgerufen am 27.04.2024.