gen mit ihren Schmerzen ersticken lassen! Und doch mußte sie vor ihm fliehen, unerreichbar weg, denn trat er in das Zimmer und heftete er seinen Blick auf sie, so war es um sie geschehen, das fühlte sie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen sehend, schwankte sie aus dem Zimmer und wählte den Versteck, der sich ihren irren Sinnen zunächst darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja nicht zu ihren Pflegern gegangen seyn würde, wenn er es übel mit ihr meinte, kam in die gestörte Seele.
Denn die Liebe ist, ungerüttelt, göttlicher Scharfsinn. Die Blitze ihrer Ahnung sehen das Verborgenste, sie gleicht dem Wunder- rosse, welches Mahomet zwischen dem Umstürzen und Auslaufen eines Wasserkruges durch alle sieben Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines Jeden zeigte -- verstört, in falsche Bahnen gelenkt, ist sie Wahnsinn, der bei Domen vorübergeht, ohne sie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für Alpengipfel ansieht.
Oswald betrat unten das Haus. Er hätte nie gedacht, daß er über eine Schwelle so scheu wie ein Sünder würde schreiten müssen. Ein grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen-
Immermann's Münchhausen. 4. Th. 6
gen mit ihren Schmerzen erſticken laſſen! Und doch mußte ſie vor ihm fliehen, unerreichbar weg, denn trat er in das Zimmer und heftete er ſeinen Blick auf ſie, ſo war es um ſie geſchehen, das fühlte ſie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen ſehend, ſchwankte ſie aus dem Zimmer und wählte den Verſteck, der ſich ihren irren Sinnen zunächſt darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja nicht zu ihren Pflegern gegangen ſeyn würde, wenn er es übel mit ihr meinte, kam in die geſtörte Seele.
Denn die Liebe iſt, ungerüttelt, göttlicher Scharfſinn. Die Blitze ihrer Ahnung ſehen das Verborgenſte, ſie gleicht dem Wunder- roſſe, welches Mahomet zwiſchen dem Umſtürzen und Auslaufen eines Waſſerkruges durch alle ſieben Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines Jeden zeigte — verſtört, in falſche Bahnen gelenkt, iſt ſie Wahnſinn, der bei Domen vorübergeht, ohne ſie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für Alpengipfel anſieht.
Oswald betrat unten das Haus. Er hätte nie gedacht, daß er über eine Schwelle ſo ſcheu wie ein Sünder würde ſchreiten müſſen. Ein grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen-
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 6
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0093"n="81"/>
gen mit ihren Schmerzen erſticken laſſen! Und<lb/>
doch mußte ſie vor ihm fliehen, unerreichbar weg,<lb/>
denn trat er in das Zimmer und heftete er ſeinen<lb/>
Blick auf ſie, ſo war es um ſie geſchehen, das<lb/>
fühlte ſie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen<lb/>ſehend, ſchwankte ſie aus dem Zimmer und wählte<lb/>
den Verſteck, der ſich ihren irren Sinnen zunächſt<lb/>
darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja<lb/>
nicht zu ihren Pflegern gegangen ſeyn würde, wenn<lb/>
er es übel mit ihr meinte, kam in die geſtörte Seele.</p><lb/><p>Denn die Liebe iſt, ungerüttelt, göttlicher<lb/>
Scharfſinn. Die Blitze ihrer Ahnung ſehen<lb/>
das Verborgenſte, ſie gleicht dem Wunder-<lb/>
roſſe, welches Mahomet zwiſchen dem Umſtürzen<lb/>
und Auslaufen eines Waſſerkruges durch alle ſieben<lb/>
Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines<lb/>
Jeden zeigte — verſtört, in falſche Bahnen gelenkt,<lb/>
iſt ſie Wahnſinn, der bei Domen vorübergeht,<lb/>
ohne ſie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für<lb/>
Alpengipfel anſieht.</p><lb/><p>Oswald betrat unten das Haus. Er hätte<lb/>
nie gedacht, daß er über eine Schwelle ſo ſcheu<lb/>
wie ein Sünder würde ſchreiten müſſen. Ein<lb/>
grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 6</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[81/0093]
gen mit ihren Schmerzen erſticken laſſen! Und
doch mußte ſie vor ihm fliehen, unerreichbar weg,
denn trat er in das Zimmer und heftete er ſeinen
Blick auf ſie, ſo war es um ſie geſchehen, das
fühlte ſie wohl. Kaum den Boden unter ihren Füßen
ſehend, ſchwankte ſie aus dem Zimmer und wählte
den Verſteck, der ſich ihren irren Sinnen zunächſt
darbot. Kein Gedanke, keine Ueberlegung, daß er ja
nicht zu ihren Pflegern gegangen ſeyn würde, wenn
er es übel mit ihr meinte, kam in die geſtörte Seele.
Denn die Liebe iſt, ungerüttelt, göttlicher
Scharfſinn. Die Blitze ihrer Ahnung ſehen
das Verborgenſte, ſie gleicht dem Wunder-
roſſe, welches Mahomet zwiſchen dem Umſtürzen
und Auslaufen eines Waſſerkruges durch alle ſieben
Himmel trug und ihm die Herrlichkeiten eines
Jeden zeigte — verſtört, in falſche Bahnen gelenkt,
iſt ſie Wahnſinn, der bei Domen vorübergeht,
ohne ſie wahrzunehmen, und Maulwurfshügel für
Alpengipfel anſieht.
Oswald betrat unten das Haus. Er hätte
nie gedacht, daß er über eine Schwelle ſo ſcheu
wie ein Sünder würde ſchreiten müſſen. Ein
grimmiger Verdruß über die ekelhaften Schlangen-
Immermann’s Münchhauſen. 4. Th. 6
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 4. Düsseldorf, 1839, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen04_1839/93>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.