Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

seyn, daß mir der Mund über dieses Capitel bald
versiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich
veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von
Lüge und Wahrheit zu lesen.

Herr Graf, alle Menschen sind Lügner, nur
mehr oder weniger entwickelte. Die sogenannten
tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht
den Verstand zur echten und vollkommenen Lüge;
ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwischen dem
massigen Fleische oder den dicken Stirnhäuten
stecken, sie bringen es höchstens zur Halblüge, zu
der egoistischen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf,
wenn Sie sich so zornig, so nach meinem Blute
lüstern darstellen, oder thun, als liege Ihnen die
Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell
mit mir ist Ihnen im Grunde ganz gleichgültig,
aber Sie haben Ihren schwäbischen Vettern gesagt:
Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel,
und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie
gesagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu-
sammen spazieren gehen. -- Hinz lügt, wenn er zu
Kunzen sagt: Ich freue mich, Sie wohl zu sehen,
denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl ist und
von Freude ist sein Herz weit entfernt; Kunz

24*

ſeyn, daß mir der Mund über dieſes Capitel bald
verſiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich
veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von
Lüge und Wahrheit zu leſen.

Herr Graf, alle Menſchen ſind Lügner, nur
mehr oder weniger entwickelte. Die ſogenannten
tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht
den Verſtand zur echten und vollkommenen Lüge;
ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwiſchen dem
maſſigen Fleiſche oder den dicken Stirnhäuten
ſtecken, ſie bringen es höchſtens zur Halblüge, zu
der egoiſtiſchen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf,
wenn Sie ſich ſo zornig, ſo nach meinem Blute
lüſtern darſtellen, oder thun, als liege Ihnen die
Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell
mit mir iſt Ihnen im Grunde ganz gleichgültig,
aber Sie haben Ihren ſchwäbiſchen Vettern geſagt:
Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel,
und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie
geſagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu-
ſammen ſpazieren gehen. — Hinz lügt, wenn er zu
Kunzen ſagt: Ich freue mich, Sie wohl zu ſehen,
denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl iſt und
von Freude iſt ſein Herz weit entfernt; Kunz

24*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0385" n="371"/>
&#x017F;eyn, daß mir der Mund über die&#x017F;es Capitel bald<lb/>
ver&#x017F;iegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich<lb/>
veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von<lb/>
Lüge und Wahrheit zu le&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Herr Graf, alle Men&#x017F;chen &#x017F;ind Lügner, nur<lb/>
mehr oder weniger entwickelte. Die &#x017F;ogenannten<lb/>
tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht<lb/>
den Ver&#x017F;tand zur echten und vollkommenen Lüge;<lb/>
ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwi&#x017F;chen dem<lb/>
ma&#x017F;&#x017F;igen Flei&#x017F;che oder den dicken Stirnhäuten<lb/>
&#x017F;tecken, &#x017F;ie bringen es höch&#x017F;tens zur Halblüge, zu<lb/>
der egoi&#x017F;ti&#x017F;chen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf,<lb/>
wenn Sie &#x017F;ich &#x017F;o zornig, &#x017F;o nach meinem Blute<lb/>&#x017F;tern dar&#x017F;tellen, oder thun, als liege Ihnen die<lb/>
Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell<lb/>
mit mir i&#x017F;t Ihnen im Grunde ganz gleichgültig,<lb/>
aber Sie haben Ihren &#x017F;chwäbi&#x017F;chen Vettern ge&#x017F;agt:<lb/>
Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel,<lb/>
und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie<lb/>
ge&#x017F;agt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu-<lb/>
&#x017F;ammen &#x017F;pazieren gehen. &#x2014; Hinz lügt, wenn er zu<lb/>
Kunzen &#x017F;agt: Ich freue mich, Sie wohl zu &#x017F;ehen,<lb/>
denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl i&#x017F;t und<lb/>
von Freude i&#x017F;t &#x017F;ein Herz weit entfernt; Kunz<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">24*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[371/0385] ſeyn, daß mir der Mund über dieſes Capitel bald verſiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von Lüge und Wahrheit zu leſen. Herr Graf, alle Menſchen ſind Lügner, nur mehr oder weniger entwickelte. Die ſogenannten tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht den Verſtand zur echten und vollkommenen Lüge; ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwiſchen dem maſſigen Fleiſche oder den dicken Stirnhäuten ſtecken, ſie bringen es höchſtens zur Halblüge, zu der egoiſtiſchen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf, wenn Sie ſich ſo zornig, ſo nach meinem Blute lüſtern darſtellen, oder thun, als liege Ihnen die Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell mit mir iſt Ihnen im Grunde ganz gleichgültig, aber Sie haben Ihren ſchwäbiſchen Vettern geſagt: Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel, und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie geſagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu- ſammen ſpazieren gehen. — Hinz lügt, wenn er zu Kunzen ſagt: Ich freue mich, Sie wohl zu ſehen, denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl iſt und von Freude iſt ſein Herz weit entfernt; Kunz 24*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/385
Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/385>, abgerufen am 22.11.2024.