seyn, daß mir der Mund über dieses Capitel bald versiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von Lüge und Wahrheit zu lesen.
Herr Graf, alle Menschen sind Lügner, nur mehr oder weniger entwickelte. Die sogenannten tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht den Verstand zur echten und vollkommenen Lüge; ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwischen dem massigen Fleische oder den dicken Stirnhäuten stecken, sie bringen es höchstens zur Halblüge, zu der egoistischen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf, wenn Sie sich so zornig, so nach meinem Blute lüstern darstellen, oder thun, als liege Ihnen die Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell mit mir ist Ihnen im Grunde ganz gleichgültig, aber Sie haben Ihren schwäbischen Vettern gesagt: Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel, und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie gesagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu- sammen spazieren gehen. -- Hinz lügt, wenn er zu Kunzen sagt: Ich freue mich, Sie wohl zu sehen, denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl ist und von Freude ist sein Herz weit entfernt; Kunz
24*
ſeyn, daß mir der Mund über dieſes Capitel bald verſiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von Lüge und Wahrheit zu leſen.
Herr Graf, alle Menſchen ſind Lügner, nur mehr oder weniger entwickelte. Die ſogenannten tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht den Verſtand zur echten und vollkommenen Lüge; ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwiſchen dem maſſigen Fleiſche oder den dicken Stirnhäuten ſtecken, ſie bringen es höchſtens zur Halblüge, zu der egoiſtiſchen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf, wenn Sie ſich ſo zornig, ſo nach meinem Blute lüſtern darſtellen, oder thun, als liege Ihnen die Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell mit mir iſt Ihnen im Grunde ganz gleichgültig, aber Sie haben Ihren ſchwäbiſchen Vettern geſagt: Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel, und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie geſagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu- ſammen ſpazieren gehen. — Hinz lügt, wenn er zu Kunzen ſagt: Ich freue mich, Sie wohl zu ſehen, denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl iſt und von Freude iſt ſein Herz weit entfernt; Kunz
24*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0385"n="371"/>ſeyn, daß mir der Mund über dieſes Capitel bald<lb/>
verſiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich<lb/>
veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von<lb/>
Lüge und Wahrheit zu leſen.</p><lb/><p>Herr Graf, alle Menſchen ſind Lügner, nur<lb/>
mehr oder weniger entwickelte. Die ſogenannten<lb/>
tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht<lb/>
den Verſtand zur echten und vollkommenen Lüge;<lb/>
ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwiſchen dem<lb/>
maſſigen Fleiſche oder den dicken Stirnhäuten<lb/>ſtecken, ſie bringen es höchſtens zur Halblüge, zu<lb/>
der egoiſtiſchen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf,<lb/>
wenn Sie ſich ſo zornig, ſo nach meinem Blute<lb/>
lüſtern darſtellen, oder thun, als liege Ihnen die<lb/>
Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell<lb/>
mit mir iſt Ihnen im Grunde ganz gleichgültig,<lb/>
aber Sie haben Ihren ſchwäbiſchen Vettern geſagt:<lb/>
Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel,<lb/>
und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie<lb/>
geſagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu-<lb/>ſammen ſpazieren gehen. — Hinz lügt, wenn er zu<lb/>
Kunzen ſagt: Ich freue mich, Sie wohl zu ſehen,<lb/>
denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl iſt und<lb/>
von Freude iſt ſein Herz weit entfernt; Kunz<lb/><fwplace="bottom"type="sig">24*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[371/0385]
ſeyn, daß mir der Mund über dieſes Capitel bald
verſiegelt werden wird. Deßhalb fühle ich mich
veranlaßt, Ihnen in aller Kürze ein Collegium von
Lüge und Wahrheit zu leſen.
Herr Graf, alle Menſchen ſind Lügner, nur
mehr oder weniger entwickelte. Die ſogenannten
tugendhaften und edeln Charaktere haben nur nicht
den Verſtand zur echten und vollkommenen Lüge;
ihre Lüge bleibt ihnen im Blute, zwiſchen dem
maſſigen Fleiſche oder den dicken Stirnhäuten
ſtecken, ſie bringen es höchſtens zur Halblüge, zu
der egoiſtiſchen Lüge. Lügen Sie nicht, Herr Graf,
wenn Sie ſich ſo zornig, ſo nach meinem Blute
lüſtern darſtellen, oder thun, als liege Ihnen die
Ehre Ihrer Muhme Clelia am Herzen? Das Duell
mit mir iſt Ihnen im Grunde ganz gleichgültig,
aber Sie haben Ihren ſchwäbiſchen Vettern geſagt:
Wo ich den Schelm treffe, da geht es ihm übel,
und nun halten Sie Ihr Wort, wie wenn Sie
geſagt hätten: Heute Nachmittag wollen wir zu-
ſammen ſpazieren gehen. — Hinz lügt, wenn er zu
Kunzen ſagt: Ich freue mich, Sie wohl zu ſehen,
denn er weiß gar nicht, ob Kunzen wohl iſt und
von Freude iſt ſein Herz weit entfernt; Kunz
24*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/385>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.