Kluft hat den Eibenbaum in Verwahr, wenn Ihr davon einen Zweig bekommt und mit demselben die Stirne der Schönen dreimal berührt, so weicht alle Fesselung von ihr,
Denn vor den Eiben Die Zauber nicht bleiben;
sie wird in Eure Arme sinken und Euch, als ihrem Retter, angehören. In diesem Augenblicke war es, als ob die Schlafende die Reden des Vogels ver- nähme. Ihr schönes Gesicht wurde von einer zar- ten Röthe überzogen, ihre Züge nahmen den Aus- druck einer unendlichen Sehnsucht an. Führe mich zum weisen Alten! rief der Schüler halb von Sinnen.
Der Vogel sprang in die Büsche, der Schüler eilte ihm nach. Die Elster flatterte einen engen Felsenweg empor, der bald nur noch über Mo- rast und wildumhergeworfene Steinblöcke gefährlich hinanleitete. Von Block zu Block mußte der Schü- ler klimmen, wollte er nicht im Sumpfe versinken. Seine Kniee zitterten, seine Brust keuchte, seine Schläfe bedeckte kalter Schweiß. Er rupfte in der Eile Blumen und Blätter ab und streute sie auf die Steine, damit er den Weg wiederfinden möchte. Endlich stand er auf bedeutender Höhe vor einem ge-
Kluft hat den Eibenbaum in Verwahr, wenn Ihr davon einen Zweig bekommt und mit demſelben die Stirne der Schönen dreimal berührt, ſo weicht alle Feſſelung von ihr,
Denn vor den Eiben Die Zauber nicht bleiben;
ſie wird in Eure Arme ſinken und Euch, als ihrem Retter, angehören. In dieſem Augenblicke war es, als ob die Schlafende die Reden des Vogels ver- nähme. Ihr ſchönes Geſicht wurde von einer zar- ten Röthe überzogen, ihre Züge nahmen den Aus- druck einer unendlichen Sehnſucht an. Führe mich zum weiſen Alten! rief der Schüler halb von Sinnen.
Der Vogel ſprang in die Büſche, der Schüler eilte ihm nach. Die Elſter flatterte einen engen Felſenweg empor, der bald nur noch über Mo- raſt und wildumhergeworfene Steinblöcke gefährlich hinanleitete. Von Block zu Block mußte der Schü- ler klimmen, wollte er nicht im Sumpfe verſinken. Seine Kniee zitterten, ſeine Bruſt keuchte, ſeine Schläfe bedeckte kalter Schweiß. Er rupfte in der Eile Blumen und Blätter ab und ſtreute ſie auf die Steine, damit er den Weg wiederfinden möchte. Endlich ſtand er auf bedeutender Höhe vor einem ge-
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Kluft hat den Eibenbaum in Verwahr, wenn Ihr
davon einen Zweig bekommt und mit demſelben die
Stirne der Schönen dreimal berührt, ſo weicht alle
Feſſelung von ihr,
Denn vor den Eiben
Die Zauber nicht bleiben;
ſie wird in Eure Arme ſinken und Euch, als ihrem
Retter, angehören. In dieſem Augenblicke war es,
als ob die Schlafende die Reden des Vogels ver-
nähme. Ihr ſchönes Geſicht wurde von einer zar-
ten Röthe überzogen, ihre Züge nahmen den Aus-
druck einer unendlichen Sehnſucht an. Führe mich
zum weiſen Alten! rief der Schüler halb von Sinnen.
Der Vogel ſprang in die Büſche, der Schüler
eilte ihm nach. Die Elſter flatterte einen engen
Felſenweg empor, der bald nur noch über Mo-
raſt und wildumhergeworfene Steinblöcke gefährlich
hinanleitete. Von Block zu Block mußte der Schü-
ler klimmen, wollte er nicht im Sumpfe verſinken.
Seine Kniee zitterten, ſeine Bruſt keuchte, ſeine
Schläfe bedeckte kalter Schweiß. Er rupfte in der
Eile Blumen und Blätter ab und ſtreute ſie auf
die Steine, damit er den Weg wiederfinden möchte.
Endlich ſtand er auf bedeutender Höhe vor einem ge-
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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/184>, abgerufen am 24.11.2024.
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