Denn Alles weiß der Dichter zwischen Himmel und Erden, aber Eines weiß er nicht: Das Innerste, Feinste, Heimlichste eines liebenden Mädchens.
Das kann ich sagen: Sie mußte ihre Seele schänden lassen, als diese nackt dalag vor Gott und Oswald, weil sie nichts von ihrer Seele für sich behalten, sondern Alles an Gott und den Ge- liebten ergeben hatte. Nur in Gott und in ihrem Geliebten wollte sie ihre Seele noch besitzen, da hörte sie, daß dieser Wille eine Sünde gewesen sei und eine Thorheit.
Sie weinte nicht mehr, ihre Augen waren heiß und trocken geworden. Ihre Gestalt hatte sich ge- streckt, sie hielt sich gerader als sonst, ihre Bewe- gungen waren langsamer geworden, sie sah vornehm aus. Ruhig ordnete sie ihr Haar unter dem Mütz- chen, welches sie aufsetzte, dann verhing sie das Fenster und entkleidete sich still und züchtig. Sie löschte die Lampe und bestieg ihr Lager, auf dem sie sich gerade ausstreckte, die Hände über der Brust gefaltet. In dieser Lage, worin sie kein Schlum- mer besuchte, obgleich sie die Wimpern geschlossen hielt, ließ sie, ohne daß ein Laut von ihr hörbar
Denn Alles weiß der Dichter zwiſchen Himmel und Erden, aber Eines weiß er nicht: Das Innerſte, Feinſte, Heimlichſte eines liebenden Mädchens.
Das kann ich ſagen: Sie mußte ihre Seele ſchänden laſſen, als dieſe nackt dalag vor Gott und Oswald, weil ſie nichts von ihrer Seele für ſich behalten, ſondern Alles an Gott und den Ge- liebten ergeben hatte. Nur in Gott und in ihrem Geliebten wollte ſie ihre Seele noch beſitzen, da hörte ſie, daß dieſer Wille eine Sünde geweſen ſei und eine Thorheit.
Sie weinte nicht mehr, ihre Augen waren heiß und trocken geworden. Ihre Geſtalt hatte ſich ge- ſtreckt, ſie hielt ſich gerader als ſonſt, ihre Bewe- gungen waren langſamer geworden, ſie ſah vornehm aus. Ruhig ordnete ſie ihr Haar unter dem Mütz- chen, welches ſie aufſetzte, dann verhing ſie das Fenſter und entkleidete ſich ſtill und züchtig. Sie löſchte die Lampe und beſtieg ihr Lager, auf dem ſie ſich gerade ausſtreckte, die Hände über der Bruſt gefaltet. In dieſer Lage, worin ſie kein Schlum- mer beſuchte, obgleich ſie die Wimpern geſchloſſen hielt, ließ ſie, ohne daß ein Laut von ihr hörbar
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Denn Alles weiß der Dichter zwiſchen Himmel
und Erden, aber Eines weiß er nicht: Das
Innerſte, Feinſte, Heimlichſte eines liebenden
Mädchens.
Das kann ich ſagen: Sie mußte ihre Seele
ſchänden laſſen, als dieſe nackt dalag vor Gott
und Oswald, weil ſie nichts von ihrer Seele für
ſich behalten, ſondern Alles an Gott und den Ge-
liebten ergeben hatte. Nur in Gott und in ihrem
Geliebten wollte ſie ihre Seele noch beſitzen, da
hörte ſie, daß dieſer Wille eine Sünde geweſen
ſei und eine Thorheit.
Sie weinte nicht mehr, ihre Augen waren heiß
und trocken geworden. Ihre Geſtalt hatte ſich ge-
ſtreckt, ſie hielt ſich gerader als ſonſt, ihre Bewe-
gungen waren langſamer geworden, ſie ſah vornehm
aus. Ruhig ordnete ſie ihr Haar unter dem Mütz-
chen, welches ſie aufſetzte, dann verhing ſie das
Fenſter und entkleidete ſich ſtill und züchtig. Sie
löſchte die Lampe und beſtieg ihr Lager, auf dem
ſie ſich gerade ausſtreckte, die Hände über der Bruſt
gefaltet. In dieſer Lage, worin ſie kein Schlum-
mer beſuchte, obgleich ſie die Wimpern geſchloſſen
hielt, ließ ſie, ohne daß ein Laut von ihr hörbar
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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 3. Düsseldorf, 1839, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen03_1839/150>, abgerufen am 22.11.2024.
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