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Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 2. Düsseldorf, 1839.

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der Milch bekam ich immer nur halbe Portionen
aus Sorge um mein angebliches Wundfieber. Oft
knurrten meine Eingeweide vor Hunger. Bei allem
dem war ich der Liebling der ganzen Heerde und
sämmtliche zwölf Ziegen auf i nannten mich nur
ihren herzigen Jungen. Ich hatte meine Verwun-
derung darüber, so viel Menschliches unter dem
Volke zu finden, welches doch, wie ich aus allen
Reden und Aeußerungen, die ich hörte, abnahm,
in einer völligen Einsamkeit und Absonderung von
der übrigen Welt auf diesen helikonischen Höhen
erwachsen war, und gegen die Menschen, von denen
es nur durch Hörensagen wußte, eine so tiefe
Verachtung hegte, wie die tugendhaften Houyhnhnms
des Dechanten Jonathan Swift gegen die sünd-
lichen Yahoos.

Das Leben einer Ziege, insonderheit einer wil-
den, hat sonst viel Schönes. Der erste Frühstrahl
drang golden, wie ihn die Ebene nicht kennt, in
unsere Höhle und beleuchtete ihre moosigen Klüfte,
vor denen nach dem Tage zu leichte Geflechte wil-
den Weines und bunter Winden hingen. Rothe
Lichter und farbige Schatten umspielten die Heerde,
die umher an den Steinen und Mooswülsten noch

der Milch bekam ich immer nur halbe Portionen
aus Sorge um mein angebliches Wundfieber. Oft
knurrten meine Eingeweide vor Hunger. Bei allem
dem war ich der Liebling der ganzen Heerde und
ſämmtliche zwölf Ziegen auf i nannten mich nur
ihren herzigen Jungen. Ich hatte meine Verwun-
derung darüber, ſo viel Menſchliches unter dem
Volke zu finden, welches doch, wie ich aus allen
Reden und Aeußerungen, die ich hörte, abnahm,
in einer völligen Einſamkeit und Abſonderung von
der übrigen Welt auf dieſen helikoniſchen Höhen
erwachſen war, und gegen die Menſchen, von denen
es nur durch Hörenſagen wußte, eine ſo tiefe
Verachtung hegte, wie die tugendhaften Houyhnhnms
des Dechanten Jonathan Swift gegen die ſünd-
lichen Yahoos.

Das Leben einer Ziege, inſonderheit einer wil-
den, hat ſonſt viel Schönes. Der erſte Frühſtrahl
drang golden, wie ihn die Ebene nicht kennt, in
unſere Höhle und beleuchtete ihre mooſigen Klüfte,
vor denen nach dem Tage zu leichte Geflechte wil-
den Weines und bunter Winden hingen. Rothe
Lichter und farbige Schatten umſpielten die Heerde,
die umher an den Steinen und Mooswülſten noch

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[135/0153] der Milch bekam ich immer nur halbe Portionen aus Sorge um mein angebliches Wundfieber. Oft knurrten meine Eingeweide vor Hunger. Bei allem dem war ich der Liebling der ganzen Heerde und ſämmtliche zwölf Ziegen auf i nannten mich nur ihren herzigen Jungen. Ich hatte meine Verwun- derung darüber, ſo viel Menſchliches unter dem Volke zu finden, welches doch, wie ich aus allen Reden und Aeußerungen, die ich hörte, abnahm, in einer völligen Einſamkeit und Abſonderung von der übrigen Welt auf dieſen helikoniſchen Höhen erwachſen war, und gegen die Menſchen, von denen es nur durch Hörenſagen wußte, eine ſo tiefe Verachtung hegte, wie die tugendhaften Houyhnhnms des Dechanten Jonathan Swift gegen die ſünd- lichen Yahoos. Das Leben einer Ziege, inſonderheit einer wil- den, hat ſonſt viel Schönes. Der erſte Frühſtrahl drang golden, wie ihn die Ebene nicht kennt, in unſere Höhle und beleuchtete ihre mooſigen Klüfte, vor denen nach dem Tage zu leichte Geflechte wil- den Weines und bunter Winden hingen. Rothe Lichter und farbige Schatten umſpielten die Heerde, die umher an den Steinen und Mooswülſten noch

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Münchhausen. Bd. 2. Düsseldorf, 1839, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_muenchhausen02_1839/153>, abgerufen am 28.04.2024.