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Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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der Stadt, wie emporgeschüttelt aus einem Zaubermärchen, unter dem schneienden Himmel mit meiner Ohrfeige allein.

Ein leiser Gesang in meiner Nähe machte mich aufmerksam. Ich sah mich um, ich stand unter dem Portale einer Kirche. Seitwärts befand sich eine Nische, in der etliche trübbrennende Lampen das steinerne Bild des Gekreuzigten mit der Mutter und dem Lieblingsjünger zu seinen Füßen beleuchteten. Eine weibliche Figur lag in später Andacht vor dem Heiligthume auf den Knieen. Von ihr rührte der Gesang her, ich horchte und konnte folgende Strophen vernehmen, die wohl aus einem Kirchenliede sein mußten:

Das Herz, verblutet und zerrissen, Die Seele voll von jeder Qual. Mein Leiden und mein krank Gewissen Bring' ich vor deines Auges Strahl.
Ach, keiner möchte solche Gaben, Kein Mensch, der selber schwankt und irrt; Du aber lächelst, nimmst erhaben, Was von der Welt verworfen wird.

Diese rührende Klage wurde oft von einem Husten unterbrochen, in den die Singende verfiel. Jetzt hatte

der Stadt, wie emporgeschüttelt aus einem Zaubermärchen, unter dem schneienden Himmel mit meiner Ohrfeige allein.

Ein leiser Gesang in meiner Nähe machte mich aufmerksam. Ich sah mich um, ich stand unter dem Portale einer Kirche. Seitwärts befand sich eine Nische, in der etliche trübbrennende Lampen das steinerne Bild des Gekreuzigten mit der Mutter und dem Lieblingsjünger zu seinen Füßen beleuchteten. Eine weibliche Figur lag in später Andacht vor dem Heiligthume auf den Knieen. Von ihr rührte der Gesang her, ich horchte und konnte folgende Strophen vernehmen, die wohl aus einem Kirchenliede sein mußten:

Das Herz, verblutet und zerrissen, Die Seele voll von jeder Qual. Mein Leiden und mein krank Gewissen Bring' ich vor deines Auges Strahl.
Ach, keiner möchte solche Gaben, Kein Mensch, der selber schwankt und irrt; Du aber lächelst, nimmst erhaben, Was von der Welt verworfen wird.

Diese rührende Klage wurde oft von einem Husten unterbrochen, in den die Singende verfiel. Jetzt hatte

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[0087] der Stadt, wie emporgeschüttelt aus einem Zaubermärchen, unter dem schneienden Himmel mit meiner Ohrfeige allein. Ein leiser Gesang in meiner Nähe machte mich aufmerksam. Ich sah mich um, ich stand unter dem Portale einer Kirche. Seitwärts befand sich eine Nische, in der etliche trübbrennende Lampen das steinerne Bild des Gekreuzigten mit der Mutter und dem Lieblingsjünger zu seinen Füßen beleuchteten. Eine weibliche Figur lag in später Andacht vor dem Heiligthume auf den Knieen. Von ihr rührte der Gesang her, ich horchte und konnte folgende Strophen vernehmen, die wohl aus einem Kirchenliede sein mußten: Das Herz, verblutet und zerrissen, Die Seele voll von jeder Qual. Mein Leiden und mein krank Gewissen Bring' ich vor deines Auges Strahl. Ach, keiner möchte solche Gaben, Kein Mensch, der selber schwankt und irrt; Du aber lächelst, nimmst erhaben, Was von der Welt verworfen wird. Diese rührende Klage wurde oft von einem Husten unterbrochen, in den die Singende verfiel. Jetzt hatte

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/87>, abgerufen am 25.11.2024.