Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Jahre starb. -- Das Leben dieses Dichters, der zu den hervorragendsten Männern Deutschlands gehört, ist zu bedeutend, um sich in den engen Ring einer biographischen Skizze einschließen zu lassen, und wir verweisen deßhalb auf die 1870 erschienene Schrift: "Karl Immermann. Sein Leben und seine Werke, aus Tagebüchern und Briefen an seine Familie zusammengestellt. Herausgegeben von Gustav zu Putlitz." Können wir doch selbst seine hohe Bedeutung als Dichter in diesem schmalen Raume nur mit einigen flüchtigen Worten würdigen, obwohl er vorzugsweise geeignet ist, als ein Vorbild für geistiges Streben und Schaffen aufgestellt zu werden, nicht bloß in seinen Siegen, sondern auch in seinem unverdrossenen Ringen, das sich durch keinen Mißerfolg abschrecken ließ. Denn durch die Entwicklungsgeschichte dieses merkwürdigen Mannes geht ein seltsamer Widerspruch hindurch zwischen den beiden Elementen, aus denen sich jede künstlerische Persönlichkeit und That zusammensetzt, seinem Charakter, der fest, herbe, im höchsten Grade männlich-eigenartig, ja selbst eigensinnig erscheint, und seinem Talent, das mit weiblicher Schmiegsamkeit sich anzulehnen beflissen ist, von fremden Mustern und persönlichen Einflüssen sich beherrschen läßt und erst nach langem Herumschweifen zu sich selber kommt. Das auf den ersten Anblick Befremdliche dieses Widerspruchs löst sich leicht, wenn wir uns erinnern, eine wie reiche Erbschaft an dichterischen Formen und Stilweisen ein Epigone der classischen Epoche anzutreten hatte: zu Goethes und Schillert noch mit allem Reiz der Neuheit wirkenden Schöpfungen die ganze Uebermacht des erst kürzlich wiederauferstandenen Shakespeare, daneben die von den Romantikern neu eingebürgerten romanischen Dichter, die großen Italiener und von den Spaniern Calderon und Cervantes. Gerade eine auf das Ernste und Strenge gerichtete Natur, die es mit ihrer Bildung nicht leicht nahm, mußte es als eine Art sittlicher Pflicht erkennen, diese mancherlei Schulen redlich durchzumachen, um Nichts zu versäumen, was zur künstlerischen Zucht und vollen Herrschaft über alle Mittel von Nutzen sein konnte. War doch auch durch die überidealistische Scheidung von Kunst und Leben, die Schiller so unermüdlich betont hatte, ein unverhältnißmäßiges Gewicht auf das rein Formelle und Aesthetische gelegt worden, so daß ein ehrlich strebender, bescheidener Jünger der Jahre starb. — Das Leben dieses Dichters, der zu den hervorragendsten Männern Deutschlands gehört, ist zu bedeutend, um sich in den engen Ring einer biographischen Skizze einschließen zu lassen, und wir verweisen deßhalb auf die 1870 erschienene Schrift: „Karl Immermann. Sein Leben und seine Werke, aus Tagebüchern und Briefen an seine Familie zusammengestellt. Herausgegeben von Gustav zu Putlitz.“ Können wir doch selbst seine hohe Bedeutung als Dichter in diesem schmalen Raume nur mit einigen flüchtigen Worten würdigen, obwohl er vorzugsweise geeignet ist, als ein Vorbild für geistiges Streben und Schaffen aufgestellt zu werden, nicht bloß in seinen Siegen, sondern auch in seinem unverdrossenen Ringen, das sich durch keinen Mißerfolg abschrecken ließ. Denn durch die Entwicklungsgeschichte dieses merkwürdigen Mannes geht ein seltsamer Widerspruch hindurch zwischen den beiden Elementen, aus denen sich jede künstlerische Persönlichkeit und That zusammensetzt, seinem Charakter, der fest, herbe, im höchsten Grade männlich-eigenartig, ja selbst eigensinnig erscheint, und seinem Talent, das mit weiblicher Schmiegsamkeit sich anzulehnen beflissen ist, von fremden Mustern und persönlichen Einflüssen sich beherrschen läßt und erst nach langem Herumschweifen zu sich selber kommt. Das auf den ersten Anblick Befremdliche dieses Widerspruchs löst sich leicht, wenn wir uns erinnern, eine wie reiche Erbschaft an dichterischen Formen und Stilweisen ein Epigone der classischen Epoche anzutreten hatte: zu Goethes und Schillert noch mit allem Reiz der Neuheit wirkenden Schöpfungen die ganze Uebermacht des erst kürzlich wiederauferstandenen Shakespeare, daneben die von den Romantikern neu eingebürgerten romanischen Dichter, die großen Italiener und von den Spaniern Calderon und Cervantes. Gerade eine auf das Ernste und Strenge gerichtete Natur, die es mit ihrer Bildung nicht leicht nahm, mußte es als eine Art sittlicher Pflicht erkennen, diese mancherlei Schulen redlich durchzumachen, um Nichts zu versäumen, was zur künstlerischen Zucht und vollen Herrschaft über alle Mittel von Nutzen sein konnte. War doch auch durch die überidealistische Scheidung von Kunst und Leben, die Schiller so unermüdlich betont hatte, ein unverhältnißmäßiges Gewicht auf das rein Formelle und Aesthetische gelegt worden, so daß ein ehrlich strebender, bescheidener Jünger der <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0006"/> Jahre starb. — Das Leben dieses Dichters, der zu den hervorragendsten Männern Deutschlands gehört, ist zu bedeutend, um sich in den engen Ring einer biographischen Skizze einschließen zu lassen, und wir verweisen deßhalb auf die 1870 erschienene Schrift: „Karl Immermann. Sein Leben und seine Werke, aus Tagebüchern und Briefen an seine Familie zusammengestellt. Herausgegeben von Gustav zu Putlitz.“ Können wir doch selbst seine hohe Bedeutung als Dichter in diesem schmalen Raume nur mit einigen flüchtigen Worten würdigen, obwohl er vorzugsweise geeignet ist, als ein Vorbild für geistiges Streben und Schaffen aufgestellt zu werden, nicht bloß in seinen Siegen, sondern auch in seinem unverdrossenen Ringen, das sich durch keinen Mißerfolg abschrecken ließ. Denn durch die Entwicklungsgeschichte dieses merkwürdigen Mannes geht ein seltsamer Widerspruch hindurch zwischen den beiden Elementen, aus denen sich jede künstlerische Persönlichkeit und That zusammensetzt, seinem Charakter, der fest, herbe, im höchsten Grade männlich-eigenartig, ja selbst eigensinnig erscheint, und seinem Talent, das mit weiblicher Schmiegsamkeit sich anzulehnen beflissen ist, von fremden Mustern und persönlichen Einflüssen sich beherrschen läßt und erst nach langem Herumschweifen zu sich selber kommt. Das auf den ersten Anblick Befremdliche dieses Widerspruchs löst sich leicht, wenn wir uns erinnern, eine wie reiche Erbschaft an dichterischen Formen und Stilweisen ein Epigone der classischen Epoche anzutreten hatte: zu Goethes und Schillert noch mit allem Reiz der Neuheit wirkenden Schöpfungen die ganze Uebermacht des erst kürzlich wiederauferstandenen Shakespeare, daneben die von den Romantikern neu eingebürgerten romanischen Dichter, die großen Italiener und von den Spaniern Calderon und Cervantes. Gerade eine auf das Ernste und Strenge gerichtete Natur, die es mit ihrer Bildung nicht leicht nahm, mußte es als eine Art sittlicher Pflicht erkennen, diese mancherlei Schulen redlich durchzumachen, um Nichts zu versäumen, was zur künstlerischen Zucht und vollen Herrschaft über alle Mittel von Nutzen sein konnte. 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Jahre starb. — Das Leben dieses Dichters, der zu den hervorragendsten Männern Deutschlands gehört, ist zu bedeutend, um sich in den engen Ring einer biographischen Skizze einschließen zu lassen, und wir verweisen deßhalb auf die 1870 erschienene Schrift: „Karl Immermann. Sein Leben und seine Werke, aus Tagebüchern und Briefen an seine Familie zusammengestellt. Herausgegeben von Gustav zu Putlitz.“ Können wir doch selbst seine hohe Bedeutung als Dichter in diesem schmalen Raume nur mit einigen flüchtigen Worten würdigen, obwohl er vorzugsweise geeignet ist, als ein Vorbild für geistiges Streben und Schaffen aufgestellt zu werden, nicht bloß in seinen Siegen, sondern auch in seinem unverdrossenen Ringen, das sich durch keinen Mißerfolg abschrecken ließ. Denn durch die Entwicklungsgeschichte dieses merkwürdigen Mannes geht ein seltsamer Widerspruch hindurch zwischen den beiden Elementen, aus denen sich jede künstlerische Persönlichkeit und That zusammensetzt, seinem Charakter, der fest, herbe, im höchsten Grade männlich-eigenartig, ja selbst eigensinnig erscheint, und seinem Talent, das mit weiblicher Schmiegsamkeit sich anzulehnen beflissen ist, von fremden Mustern und persönlichen Einflüssen sich beherrschen läßt und erst nach langem Herumschweifen zu sich selber kommt. Das auf den ersten Anblick Befremdliche dieses Widerspruchs löst sich leicht, wenn wir uns erinnern, eine wie reiche Erbschaft an dichterischen Formen und Stilweisen ein Epigone der classischen Epoche anzutreten hatte: zu Goethes und Schillert noch mit allem Reiz der Neuheit wirkenden Schöpfungen die ganze Uebermacht des erst kürzlich wiederauferstandenen Shakespeare, daneben die von den Romantikern neu eingebürgerten romanischen Dichter, die großen Italiener und von den Spaniern Calderon und Cervantes. Gerade eine auf das Ernste und Strenge gerichtete Natur, die es mit ihrer Bildung nicht leicht nahm, mußte es als eine Art sittlicher Pflicht erkennen, diese mancherlei Schulen redlich durchzumachen, um Nichts zu versäumen, was zur künstlerischen Zucht und vollen Herrschaft über alle Mittel von Nutzen sein konnte. War doch auch durch die überidealistische Scheidung von Kunst und Leben, die Schiller so unermüdlich betont hatte, ein unverhältnißmäßiges Gewicht auf das rein Formelle und Aesthetische gelegt worden, so daß ein ehrlich strebender, bescheidener Jünger der
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Zitationshilfe: | Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/6>, abgerufen am 22.07.2024. |