Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

dem tödtlichen Sturze des Oberlehrers erhielt, glaubte sie es
durch genaues Ausrechnen der Zeit herauszubringen, daß er¬
sterer genau mit dem Stillestehen der Uhr zusammentreffe. Sie
hatte im alltäglichen Geleise des häuslichen Lebens schwerlich
ein deutliches Bewußtsein von der Stärke ihrer Leidenschaft,
welche von der einlaufenden Todesbotschaft tödtlich getroffen,
sie mit Entsetzen erfüllte, wie denn der Mensch überhaupt
seine wahre Gesinnung erst in erschütternden Katastrophen recht
kennen lernt, in deren strenger Probe nur die ächten, natur¬
wahren Gefühle, nicht aber die erkünstelten, äußerlich ange¬
wöhnten Empfindungen bestehen. Nicht nur zitterte sie wie
in einem heftigen Fieberschauer, sondern sie sah auch in einer
urplötzlichen Vision ein offenes Grab, und auf dessen Grunde
einen Sarg, durch dessen geborstenen Deckel der Verstorbene
sich aufrichtete. Während der nächsten Stunden konnte sie sich
gar nicht fassen und sammeln, und bei dem Wehklagen in
der Familie glaubte sie unter die Erde sinken zu müssen. Noch
kämpfte ihre rüstige Natur gegen diesen Schlag an, und sie
erlangte wenigstens so viele äußere Ruhe wieder, daß sie ihre
Arbeiten, wenn auch mit großer Anstrengung und nur unvoll¬
ständig verrichten konnte. Aber schon trug sie den Entwicke¬
lungskeim einer Geisteskrankheit in sich, denn sie mußte im¬
merfort an den Verstorbenen denken, brach dabei häufig in
Weinen aus, über dessen Ursache befragt sie sich mit heftigem
Kopfweh entschuldigte, und gerieth oft in die heftigste Angst.
Wie stark schon damals ihre Selbsttäuschung war, geht beson¬
ders daraus hervor, daß sie hartnäckig die Ueberzeugung fest¬
hielt, der Verstorbene sei nur scheintodt gewesen, und werde
gewiß wiederkehren. Sie gerieth darüber selbst mehrmals in
Streit mit einer anderen Magd, welche sie eine Thörin schalt,
und ihr Schweigen gebot, ja sie ging so weit, gegen jene zu
behaupten, der Verstorbene werde nicht nur wiederkehren, son¬
dern auch sie heirathen, worauf sie die kränkende Bemerkung
hören mußte: "auf sie werde er auch gerade gewartet haben."
Begierig suchte sie die Zeitungen auf, welche jenen Unglücks¬
fall berichtet hatten, konnte aber dadurch nur auf Augenblicke
in ihrer widersprechenden Ueberzeugung irre gemacht werden,
wie es denn überhaupt oft genug sich ereignet, daß Geistes¬

dem toͤdtlichen Sturze des Oberlehrers erhielt, glaubte ſie es
durch genaues Ausrechnen der Zeit herauszubringen, daß er¬
ſterer genau mit dem Stilleſtehen der Uhr zuſammentreffe. Sie
hatte im alltaͤglichen Geleiſe des haͤuslichen Lebens ſchwerlich
ein deutliches Bewußtſein von der Staͤrke ihrer Leidenſchaft,
welche von der einlaufenden Todesbotſchaft toͤdtlich getroffen,
ſie mit Entſetzen erfuͤllte, wie denn der Menſch uͤberhaupt
ſeine wahre Geſinnung erſt in erſchuͤtternden Kataſtrophen recht
kennen lernt, in deren ſtrenger Probe nur die aͤchten, natur¬
wahren Gefuͤhle, nicht aber die erkuͤnſtelten, aͤußerlich ange¬
woͤhnten Empfindungen beſtehen. Nicht nur zitterte ſie wie
in einem heftigen Fieberſchauer, ſondern ſie ſah auch in einer
urploͤtzlichen Viſion ein offenes Grab, und auf deſſen Grunde
einen Sarg, durch deſſen geborſtenen Deckel der Verſtorbene
ſich aufrichtete. Waͤhrend der naͤchſten Stunden konnte ſie ſich
gar nicht faſſen und ſammeln, und bei dem Wehklagen in
der Familie glaubte ſie unter die Erde ſinken zu muͤſſen. Noch
kaͤmpfte ihre ruͤſtige Natur gegen dieſen Schlag an, und ſie
erlangte wenigſtens ſo viele aͤußere Ruhe wieder, daß ſie ihre
Arbeiten, wenn auch mit großer Anſtrengung und nur unvoll¬
ſtaͤndig verrichten konnte. Aber ſchon trug ſie den Entwicke¬
lungskeim einer Geiſteskrankheit in ſich, denn ſie mußte im¬
merfort an den Verſtorbenen denken, brach dabei haͤufig in
Weinen aus, uͤber deſſen Urſache befragt ſie ſich mit heftigem
Kopfweh entſchuldigte, und gerieth oft in die heftigſte Angſt.
Wie ſtark ſchon damals ihre Selbſttaͤuſchung war, geht beſon¬
ders daraus hervor, daß ſie hartnaͤckig die Ueberzeugung feſt¬
hielt, der Verſtorbene ſei nur ſcheintodt geweſen, und werde
gewiß wiederkehren. Sie gerieth daruͤber ſelbſt mehrmals in
Streit mit einer anderen Magd, welche ſie eine Thoͤrin ſchalt,
und ihr Schweigen gebot, ja ſie ging ſo weit, gegen jene zu
behaupten, der Verſtorbene werde nicht nur wiederkehren, ſon¬
dern auch ſie heirathen, worauf ſie die kraͤnkende Bemerkung
hoͤren mußte: „auf ſie werde er auch gerade gewartet haben.”
Begierig ſuchte ſie die Zeitungen auf, welche jenen Ungluͤcks¬
fall berichtet hatten, konnte aber dadurch nur auf Augenblicke
in ihrer widerſprechenden Ueberzeugung irre gemacht werden,
wie es denn uͤberhaupt oft genug ſich ereignet, daß Geiſtes¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0098" n="90"/>
dem to&#x0364;dtlichen Sturze des Oberlehrers erhielt, glaubte &#x017F;ie es<lb/>
durch genaues Ausrechnen der Zeit herauszubringen, daß er¬<lb/>
&#x017F;terer genau mit dem Stille&#x017F;tehen der Uhr zu&#x017F;ammentreffe. Sie<lb/>
hatte im allta&#x0364;glichen Gelei&#x017F;e des ha&#x0364;uslichen Lebens &#x017F;chwerlich<lb/>
ein deutliches Bewußt&#x017F;ein von der Sta&#x0364;rke ihrer Leiden&#x017F;chaft,<lb/>
welche von der einlaufenden Todesbot&#x017F;chaft to&#x0364;dtlich getroffen,<lb/>
&#x017F;ie mit Ent&#x017F;etzen erfu&#x0364;llte, wie denn der Men&#x017F;ch u&#x0364;berhaupt<lb/>
&#x017F;eine wahre Ge&#x017F;innung er&#x017F;t in er&#x017F;chu&#x0364;tternden Kata&#x017F;trophen recht<lb/>
kennen lernt, in deren &#x017F;trenger Probe nur die a&#x0364;chten, natur¬<lb/>
wahren Gefu&#x0364;hle, nicht aber die erku&#x0364;n&#x017F;telten, a&#x0364;ußerlich ange¬<lb/>
wo&#x0364;hnten Empfindungen be&#x017F;tehen. Nicht nur zitterte &#x017F;ie wie<lb/>
in einem heftigen Fieber&#x017F;chauer, &#x017F;ondern &#x017F;ie &#x017F;ah auch in einer<lb/>
urplo&#x0364;tzlichen Vi&#x017F;ion ein offenes Grab, und auf de&#x017F;&#x017F;en Grunde<lb/>
einen Sarg, durch de&#x017F;&#x017F;en gebor&#x017F;tenen Deckel der Ver&#x017F;torbene<lb/>
&#x017F;ich aufrichtete. Wa&#x0364;hrend der na&#x0364;ch&#x017F;ten Stunden konnte &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
gar nicht fa&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ammeln, und bei dem Wehklagen in<lb/>
der Familie glaubte &#x017F;ie unter die Erde &#x017F;inken zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Noch<lb/>
ka&#x0364;mpfte ihre ru&#x0364;&#x017F;tige Natur gegen die&#x017F;en Schlag an, und &#x017F;ie<lb/>
erlangte wenig&#x017F;tens &#x017F;o viele a&#x0364;ußere Ruhe wieder, daß &#x017F;ie ihre<lb/>
Arbeiten, wenn auch mit großer An&#x017F;trengung und nur unvoll¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig verrichten konnte. Aber &#x017F;chon trug &#x017F;ie den Entwicke¬<lb/>
lungskeim einer Gei&#x017F;teskrankheit in &#x017F;ich, denn &#x017F;ie mußte im¬<lb/>
merfort an den Ver&#x017F;torbenen denken, brach dabei ha&#x0364;ufig in<lb/>
Weinen aus, u&#x0364;ber de&#x017F;&#x017F;en Ur&#x017F;ache befragt &#x017F;ie &#x017F;ich mit heftigem<lb/>
Kopfweh ent&#x017F;chuldigte, und gerieth oft in die heftig&#x017F;te Ang&#x017F;t.<lb/>
Wie &#x017F;tark &#x017F;chon damals ihre Selb&#x017F;tta&#x0364;u&#x017F;chung war, geht be&#x017F;on¬<lb/>
ders daraus hervor, daß &#x017F;ie hartna&#x0364;ckig die Ueberzeugung fe&#x017F;<lb/>
hielt, der Ver&#x017F;torbene &#x017F;ei nur &#x017F;cheintodt gewe&#x017F;en, und werde<lb/>
gewiß wiederkehren. Sie gerieth daru&#x0364;ber &#x017F;elb&#x017F;t mehrmals in<lb/>
Streit mit einer anderen Magd, welche &#x017F;ie eine Tho&#x0364;rin &#x017F;chalt,<lb/>
und ihr Schweigen gebot, ja &#x017F;ie ging &#x017F;o weit, gegen jene zu<lb/>
behaupten, der Ver&#x017F;torbene werde nicht nur wiederkehren, &#x017F;on¬<lb/>
dern auch &#x017F;ie heirathen, worauf &#x017F;ie die kra&#x0364;nkende Bemerkung<lb/>
ho&#x0364;ren mußte: &#x201E;auf &#x017F;ie werde er auch gerade gewartet haben.&#x201D;<lb/>
Begierig &#x017F;uchte &#x017F;ie die Zeitungen auf, welche jenen Unglu&#x0364;cks¬<lb/>
fall berichtet hatten, konnte aber dadurch nur auf Augenblicke<lb/>
in ihrer wider&#x017F;prechenden Ueberzeugung irre gemacht werden,<lb/>
wie es denn u&#x0364;berhaupt oft genug &#x017F;ich ereignet, daß Gei&#x017F;tes¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0098] dem toͤdtlichen Sturze des Oberlehrers erhielt, glaubte ſie es durch genaues Ausrechnen der Zeit herauszubringen, daß er¬ ſterer genau mit dem Stilleſtehen der Uhr zuſammentreffe. Sie hatte im alltaͤglichen Geleiſe des haͤuslichen Lebens ſchwerlich ein deutliches Bewußtſein von der Staͤrke ihrer Leidenſchaft, welche von der einlaufenden Todesbotſchaft toͤdtlich getroffen, ſie mit Entſetzen erfuͤllte, wie denn der Menſch uͤberhaupt ſeine wahre Geſinnung erſt in erſchuͤtternden Kataſtrophen recht kennen lernt, in deren ſtrenger Probe nur die aͤchten, natur¬ wahren Gefuͤhle, nicht aber die erkuͤnſtelten, aͤußerlich ange¬ woͤhnten Empfindungen beſtehen. Nicht nur zitterte ſie wie in einem heftigen Fieberſchauer, ſondern ſie ſah auch in einer urploͤtzlichen Viſion ein offenes Grab, und auf deſſen Grunde einen Sarg, durch deſſen geborſtenen Deckel der Verſtorbene ſich aufrichtete. Waͤhrend der naͤchſten Stunden konnte ſie ſich gar nicht faſſen und ſammeln, und bei dem Wehklagen in der Familie glaubte ſie unter die Erde ſinken zu muͤſſen. Noch kaͤmpfte ihre ruͤſtige Natur gegen dieſen Schlag an, und ſie erlangte wenigſtens ſo viele aͤußere Ruhe wieder, daß ſie ihre Arbeiten, wenn auch mit großer Anſtrengung und nur unvoll¬ ſtaͤndig verrichten konnte. Aber ſchon trug ſie den Entwicke¬ lungskeim einer Geiſteskrankheit in ſich, denn ſie mußte im¬ merfort an den Verſtorbenen denken, brach dabei haͤufig in Weinen aus, uͤber deſſen Urſache befragt ſie ſich mit heftigem Kopfweh entſchuldigte, und gerieth oft in die heftigſte Angſt. Wie ſtark ſchon damals ihre Selbſttaͤuſchung war, geht beſon¬ ders daraus hervor, daß ſie hartnaͤckig die Ueberzeugung feſt¬ hielt, der Verſtorbene ſei nur ſcheintodt geweſen, und werde gewiß wiederkehren. Sie gerieth daruͤber ſelbſt mehrmals in Streit mit einer anderen Magd, welche ſie eine Thoͤrin ſchalt, und ihr Schweigen gebot, ja ſie ging ſo weit, gegen jene zu behaupten, der Verſtorbene werde nicht nur wiederkehren, ſon¬ dern auch ſie heirathen, worauf ſie die kraͤnkende Bemerkung hoͤren mußte: „auf ſie werde er auch gerade gewartet haben.” Begierig ſuchte ſie die Zeitungen auf, welche jenen Ungluͤcks¬ fall berichtet hatten, konnte aber dadurch nur auf Augenblicke in ihrer widerſprechenden Ueberzeugung irre gemacht werden, wie es denn uͤberhaupt oft genug ſich ereignet, daß Geiſtes¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/98
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/98>, abgerufen am 06.05.2024.