Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.Einleitung. Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬ Ideler über d. rel. Wahnsinn.
1 Einleitung. Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬ Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn.
1 <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0009" n="[1]"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b #g">Einleitung.</hi><lb/> </head> <p><hi rendition="#in">D</hi>as freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬<lb/> charakter des Menſchen, wendet ſich ſeiner Natur nach einer<lb/> uͤberſinnlichen Welt zu, da es mit den zahlloſen Beſchraͤn¬<lb/> kungen der ſinnlichen Wirklichheit uͤberall in den ſchroffſten<lb/> Widerſtreit tritt, und dadurch mehr oder weniger ſeiner Be¬<lb/> friedigung verluſtig geht. Das religioͤſe Bewußtſein, in wel¬<lb/> chem jene uͤberſinnliche Welt zur deutlichen Vorſtellung gelan¬<lb/> gen ſoll, muß daher auch als der aus dem innerſten Weſen<lb/> des Menſchen entſpringende Urtrieb, als die Grundbedingung<lb/> ſeines Denkens und Wollens, als das Geſetz angeſehen wer¬<lb/> den, durch deſſen Erfuͤllung allein ſeine Geſammtthaͤtigkeit das<lb/> Ziel ihrer Beſtimmung erreichen kann. Denn indem das re¬<lb/> ligioͤſe Bewußtſein dem Menſchen eine hoͤhere und vollkomm¬<lb/> nere Weltordnung, als ſeinen Sinnen ſich darſtellt, offenbart,<lb/> und ihm ſein Buͤrgerrecht in derſelben verheißt, fordert ſie<lb/> ihn mit dem ſtaͤrkſten Machtgebot auf, ſich dieſes herrlichen<lb/> Berufes wuͤrdig zu bezeigen, indem er letzterem ſeine welt¬<lb/> lichen Intereſſen dergeſtalt unterordnet, daß ſie ihn demſelben<lb/> nicht abtruͤnnig machen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt daher je¬<lb/> nes Bewußtſein die Quelle aller Pflichtbegriffe, naͤmlich der<lb/> nothwendigen Vorſchriften, durch deren treue Befolgung er<lb/> allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen hoͤchſten<lb/> Gutes theilhaftig werden, und ſonach mit den Forderungen<lb/> ſeiner geiſtigen Natur in Uebereinſtimmung treten kann. End¬<lb/> lich ſchließen die religioͤſen Vorſtellungen den Grundbegriff eines<lb/> goͤttlichen Weſens in ſich, welches der Menſch als den Urhe¬<lb/> ber und Geſetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abſo¬<lb/> luten Heiligkeit und Nothwendigkeit ſeiner Gebote ſtets mit<lb/> tiefſter Ehrfurcht und feſteſter Ueberzeugung inne zu werden.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Ideler</hi> uͤber d. rel. Wahnſinn.<lb/> 1<lb/></fw> </div> </body> </text> </TEI> [[1]/0009]
Einleitung.
Das freie Streben nach dem Unendlichen, als der Grund¬
charakter des Menſchen, wendet ſich ſeiner Natur nach einer
uͤberſinnlichen Welt zu, da es mit den zahlloſen Beſchraͤn¬
kungen der ſinnlichen Wirklichheit uͤberall in den ſchroffſten
Widerſtreit tritt, und dadurch mehr oder weniger ſeiner Be¬
friedigung verluſtig geht. Das religioͤſe Bewußtſein, in wel¬
chem jene uͤberſinnliche Welt zur deutlichen Vorſtellung gelan¬
gen ſoll, muß daher auch als der aus dem innerſten Weſen
des Menſchen entſpringende Urtrieb, als die Grundbedingung
ſeines Denkens und Wollens, als das Geſetz angeſehen wer¬
den, durch deſſen Erfuͤllung allein ſeine Geſammtthaͤtigkeit das
Ziel ihrer Beſtimmung erreichen kann. Denn indem das re¬
ligioͤſe Bewußtſein dem Menſchen eine hoͤhere und vollkomm¬
nere Weltordnung, als ſeinen Sinnen ſich darſtellt, offenbart,
und ihm ſein Buͤrgerrecht in derſelben verheißt, fordert ſie
ihn mit dem ſtaͤrkſten Machtgebot auf, ſich dieſes herrlichen
Berufes wuͤrdig zu bezeigen, indem er letzterem ſeine welt¬
lichen Intereſſen dergeſtalt unterordnet, daß ſie ihn demſelben
nicht abtruͤnnig machen koͤnnen. In dieſem Sinne iſt daher je¬
nes Bewußtſein die Quelle aller Pflichtbegriffe, naͤmlich der
nothwendigen Vorſchriften, durch deren treue Befolgung er
allein des durch die Religion ihm feierlich verheißenen hoͤchſten
Gutes theilhaftig werden, und ſonach mit den Forderungen
ſeiner geiſtigen Natur in Uebereinſtimmung treten kann. End¬
lich ſchließen die religioͤſen Vorſtellungen den Grundbegriff eines
goͤttlichen Weſens in ſich, welches der Menſch als den Urhe¬
ber und Geſetzgeber der Welt anerkennen muß, um der abſo¬
luten Heiligkeit und Nothwendigkeit ſeiner Gebote ſtets mit
tiefſter Ehrfurcht und feſteſter Ueberzeugung inne zu werden.
Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn.
1
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |