Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Indeß gelangt der Mensch wegen der beschränkten Ein¬
richtung seines Denkvermögens im religiösen Bewußtsein nicht
zu einer unmittelbaren Anschauung des Unendlichen, und nicht
zu einer deutlichen Erkenntniß desselben, welche er mit Hülfe
streng wissenschaftlicher Beweise Anderen aufdringen könnte;
sondern jenes Bewußtsein gestaltet sich in jedem Einzelnen ganz
nach der geistigen Eigenthümlichkeit desselben, daher denn die
individuellen Verschiedenheiten der Menschen nirgends deutli¬
cher zu Tage kommen, als in den unzählig verschiedenen Denk¬
weisen, mit denen sie das Göttliche auffassen. Die Religions¬
geschichte, welche einerseits den unwiderlegbaren Beweis führt,
daß die Völker aller Zeiten und Orte die Anbetung Gottes
und die Befolgung seiner Gebote an die Spitze ihrer Angele¬
genheiten stellten, lehrt andrerseits eben so unwidersprechlich,
daß sie ihr religiöses Bewußtsein in dem Maaße verunstalte¬
ten, als sie sich der ursprünglichen Bestimmung desselben ent¬
fremdeten, ihnen den Weg zur geistig sittlichen Vervollkomm¬
nung zu bahnen. Denn niemals erfolgt die Entwickelung je¬
nes Bewußtseins in einer völligen Abgeschlossenheit von den übrigen
Interessen des Lebens, sondern da es letztere als das Princip
ihrer fortschreitenden Veredlung innig durchdringen soll, so
muß es in seiner eigenen Ausbildung um so größere Hinder¬
nisse erfahren, je mehr jene Interessen in sinnlicher, geistloser
Rohheit und in der Zwietracht der Leidenschaften von ihrer ur¬
sprünglichen Bedeutung ausgeartet sind. Eine große Wahr¬
heit liegt daher in den Worten: so wie der Mensch, so
ist auch sein Gott
, woraus sich wohl mit voller Befug¬
niß die Folgerung ableiten läßt, daß nicht zwei Menschen in
ihren religiösen Begriffen durchaus übereinstimmen, weil letz¬
tere den höchsten und vergeistigsten Ausdruck der ganzen Denk¬
weise und Gesinnung darstellen, und daher den zahllosen Ab¬
weichungen derselben von einander unterworfen sind.

Ist es also wahr, daß die Religion den wesentlichen
Beruf des Menschen, oder das Gesetz offenbart, dem er mit
unverbrüchlichem Gehorsam nachleben muß, wenn er mit sich
in Uebereinstimmung kommen, und dadurch die unendliche
Fülle der ihm verliehenen Kräfte zur wirklichen Erscheinung
und rastlos fortschreitenden Entwickelung bringen soll; so liegt

Indeß gelangt der Menſch wegen der beſchraͤnkten Ein¬
richtung ſeines Denkvermoͤgens im religioͤſen Bewußtſein nicht
zu einer unmittelbaren Anſchauung des Unendlichen, und nicht
zu einer deutlichen Erkenntniß deſſelben, welche er mit Huͤlfe
ſtreng wiſſenſchaftlicher Beweiſe Anderen aufdringen koͤnnte;
ſondern jenes Bewußtſein geſtaltet ſich in jedem Einzelnen ganz
nach der geiſtigen Eigenthuͤmlichkeit deſſelben, daher denn die
individuellen Verſchiedenheiten der Menſchen nirgends deutli¬
cher zu Tage kommen, als in den unzaͤhlig verſchiedenen Denk¬
weiſen, mit denen ſie das Goͤttliche auffaſſen. Die Religions¬
geſchichte, welche einerſeits den unwiderlegbaren Beweis fuͤhrt,
daß die Voͤlker aller Zeiten und Orte die Anbetung Gottes
und die Befolgung ſeiner Gebote an die Spitze ihrer Angele¬
genheiten ſtellten, lehrt andrerſeits eben ſo unwiderſprechlich,
daß ſie ihr religioͤſes Bewußtſein in dem Maaße verunſtalte¬
ten, als ſie ſich der urſpruͤnglichen Beſtimmung deſſelben ent¬
fremdeten, ihnen den Weg zur geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬
nung zu bahnen. Denn niemals erfolgt die Entwickelung je¬
nes Bewußtſeins in einer voͤlligen Abgeſchloſſenheit von den uͤbrigen
Intereſſen des Lebens, ſondern da es letztere als das Princip
ihrer fortſchreitenden Veredlung innig durchdringen ſoll, ſo
muß es in ſeiner eigenen Ausbildung um ſo groͤßere Hinder¬
niſſe erfahren, je mehr jene Intereſſen in ſinnlicher, geiſtloſer
Rohheit und in der Zwietracht der Leidenſchaften von ihrer ur¬
ſpruͤnglichen Bedeutung ausgeartet ſind. Eine große Wahr¬
heit liegt daher in den Worten: ſo wie der Menſch, ſo
iſt auch ſein Gott
, woraus ſich wohl mit voller Befug¬
niß die Folgerung ableiten laͤßt, daß nicht zwei Menſchen in
ihren religioͤſen Begriffen durchaus uͤbereinſtimmen, weil letz¬
tere den hoͤchſten und vergeiſtigſten Ausdruck der ganzen Denk¬
weiſe und Geſinnung darſtellen, und daher den zahlloſen Ab¬
weichungen derſelben von einander unterworfen ſind.

Iſt es alſo wahr, daß die Religion den weſentlichen
Beruf des Menſchen, oder das Geſetz offenbart, dem er mit
unverbruͤchlichem Gehorſam nachleben muß, wenn er mit ſich
in Uebereinſtimmung kommen, und dadurch die unendliche
Fuͤlle der ihm verliehenen Kraͤfte zur wirklichen Erſcheinung
und raſtlos fortſchreitenden Entwickelung bringen ſoll; ſo liegt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0010" n="2"/>
        <p>Indeß gelangt der Men&#x017F;ch wegen der be&#x017F;chra&#x0364;nkten Ein¬<lb/>
richtung &#x017F;eines Denkvermo&#x0364;gens im religio&#x0364;&#x017F;en Bewußt&#x017F;ein nicht<lb/>
zu einer unmittelbaren An&#x017F;chauung des Unendlichen, und nicht<lb/>
zu einer deutlichen Erkenntniß de&#x017F;&#x017F;elben, welche er mit Hu&#x0364;lfe<lb/>
&#x017F;treng wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher Bewei&#x017F;e Anderen aufdringen ko&#x0364;nnte;<lb/>
&#x017F;ondern jenes Bewußt&#x017F;ein ge&#x017F;taltet &#x017F;ich in jedem Einzelnen ganz<lb/>
nach der gei&#x017F;tigen Eigenthu&#x0364;mlichkeit de&#x017F;&#x017F;elben, daher denn die<lb/>
individuellen Ver&#x017F;chiedenheiten der Men&#x017F;chen nirgends deutli¬<lb/>
cher zu Tage kommen, als in den unza&#x0364;hlig ver&#x017F;chiedenen Denk¬<lb/>
wei&#x017F;en, mit denen &#x017F;ie das Go&#x0364;ttliche auffa&#x017F;&#x017F;en. Die Religions¬<lb/>
ge&#x017F;chichte, welche einer&#x017F;eits den unwiderlegbaren Beweis fu&#x0364;hrt,<lb/>
daß die Vo&#x0364;lker aller Zeiten und Orte die Anbetung Gottes<lb/>
und die Befolgung &#x017F;einer Gebote an die Spitze ihrer Angele¬<lb/>
genheiten &#x017F;tellten, lehrt andrer&#x017F;eits eben &#x017F;o unwider&#x017F;prechlich,<lb/>
daß &#x017F;ie ihr religio&#x0364;&#x017F;es Bewußt&#x017F;ein in dem Maaße verun&#x017F;talte¬<lb/>
ten, als &#x017F;ie &#x017F;ich der ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Be&#x017F;timmung de&#x017F;&#x017F;elben ent¬<lb/>
fremdeten, ihnen den Weg zur gei&#x017F;tig &#x017F;ittlichen Vervollkomm¬<lb/>
nung zu bahnen. Denn niemals erfolgt die Entwickelung je¬<lb/>
nes Bewußt&#x017F;eins in einer vo&#x0364;lligen Abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit von den u&#x0364;brigen<lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;en des Lebens, &#x017F;ondern da es letztere als das Princip<lb/>
ihrer fort&#x017F;chreitenden Veredlung innig durchdringen &#x017F;oll, &#x017F;o<lb/>
muß es in &#x017F;einer eigenen Ausbildung um &#x017F;o gro&#x0364;ßere Hinder¬<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e erfahren, je mehr jene Intere&#x017F;&#x017F;en in &#x017F;innlicher, gei&#x017F;tlo&#x017F;er<lb/>
Rohheit und in der Zwietracht der Leiden&#x017F;chaften von ihrer ur¬<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;nglichen Bedeutung ausgeartet &#x017F;ind. Eine große Wahr¬<lb/>
heit liegt daher in den Worten: <hi rendition="#g">&#x017F;o wie der Men&#x017F;ch</hi>, <hi rendition="#g">&#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t auch &#x017F;ein Gott</hi>, woraus &#x017F;ich wohl mit voller Befug¬<lb/>
niß die Folgerung ableiten la&#x0364;ßt, daß nicht zwei Men&#x017F;chen in<lb/>
ihren religio&#x0364;&#x017F;en Begriffen durchaus u&#x0364;berein&#x017F;timmen, weil letz¬<lb/>
tere den ho&#x0364;ch&#x017F;ten und vergei&#x017F;tig&#x017F;ten Ausdruck der ganzen Denk¬<lb/>
wei&#x017F;e und Ge&#x017F;innung dar&#x017F;tellen, und daher den zahllo&#x017F;en Ab¬<lb/>
weichungen der&#x017F;elben von einander unterworfen &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>I&#x017F;t es al&#x017F;o wahr, daß die Religion den we&#x017F;entlichen<lb/>
Beruf des Men&#x017F;chen, oder das Ge&#x017F;etz offenbart, dem er mit<lb/>
unverbru&#x0364;chlichem Gehor&#x017F;am nachleben muß, wenn er mit &#x017F;ich<lb/>
in Ueberein&#x017F;timmung kommen, und dadurch die unendliche<lb/>
Fu&#x0364;lle der ihm verliehenen Kra&#x0364;fte zur wirklichen Er&#x017F;cheinung<lb/>
und ra&#x017F;tlos fort&#x017F;chreitenden Entwickelung bringen &#x017F;oll; &#x017F;o liegt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0010] Indeß gelangt der Menſch wegen der beſchraͤnkten Ein¬ richtung ſeines Denkvermoͤgens im religioͤſen Bewußtſein nicht zu einer unmittelbaren Anſchauung des Unendlichen, und nicht zu einer deutlichen Erkenntniß deſſelben, welche er mit Huͤlfe ſtreng wiſſenſchaftlicher Beweiſe Anderen aufdringen koͤnnte; ſondern jenes Bewußtſein geſtaltet ſich in jedem Einzelnen ganz nach der geiſtigen Eigenthuͤmlichkeit deſſelben, daher denn die individuellen Verſchiedenheiten der Menſchen nirgends deutli¬ cher zu Tage kommen, als in den unzaͤhlig verſchiedenen Denk¬ weiſen, mit denen ſie das Goͤttliche auffaſſen. Die Religions¬ geſchichte, welche einerſeits den unwiderlegbaren Beweis fuͤhrt, daß die Voͤlker aller Zeiten und Orte die Anbetung Gottes und die Befolgung ſeiner Gebote an die Spitze ihrer Angele¬ genheiten ſtellten, lehrt andrerſeits eben ſo unwiderſprechlich, daß ſie ihr religioͤſes Bewußtſein in dem Maaße verunſtalte¬ ten, als ſie ſich der urſpruͤnglichen Beſtimmung deſſelben ent¬ fremdeten, ihnen den Weg zur geiſtig ſittlichen Vervollkomm¬ nung zu bahnen. Denn niemals erfolgt die Entwickelung je¬ nes Bewußtſeins in einer voͤlligen Abgeſchloſſenheit von den uͤbrigen Intereſſen des Lebens, ſondern da es letztere als das Princip ihrer fortſchreitenden Veredlung innig durchdringen ſoll, ſo muß es in ſeiner eigenen Ausbildung um ſo groͤßere Hinder¬ niſſe erfahren, je mehr jene Intereſſen in ſinnlicher, geiſtloſer Rohheit und in der Zwietracht der Leidenſchaften von ihrer ur¬ ſpruͤnglichen Bedeutung ausgeartet ſind. Eine große Wahr¬ heit liegt daher in den Worten: ſo wie der Menſch, ſo iſt auch ſein Gott, woraus ſich wohl mit voller Befug¬ niß die Folgerung ableiten laͤßt, daß nicht zwei Menſchen in ihren religioͤſen Begriffen durchaus uͤbereinſtimmen, weil letz¬ tere den hoͤchſten und vergeiſtigſten Ausdruck der ganzen Denk¬ weiſe und Geſinnung darſtellen, und daher den zahlloſen Ab¬ weichungen derſelben von einander unterworfen ſind. Iſt es alſo wahr, daß die Religion den weſentlichen Beruf des Menſchen, oder das Geſetz offenbart, dem er mit unverbruͤchlichem Gehorſam nachleben muß, wenn er mit ſich in Uebereinſtimmung kommen, und dadurch die unendliche Fuͤlle der ihm verliehenen Kraͤfte zur wirklichen Erſcheinung und raſtlos fortſchreitenden Entwickelung bringen ſoll; ſo liegt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/10
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/10>, abgerufen am 22.11.2024.