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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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Sünden der Gnade Gottes und der geistlichen Wiedergeburt
durch eine erneuerte Taufe in einem besonders hohen Grade
bedürftig sei, und so bewarb er sich um die Aufnahme in die
Gemeinde der Wiedertäufer, als an einem Abende diejenigen
aufgerufen wurden, welche dazu bereitwillig waren. Sie alle,
14 an der Zahl, mußten Reue über ihre Sünden bezeugen,
und es sollen Viele unter ihnen geweint, geseufzt, laut auf¬
geschrieen und ihr Bedauern ausgesprochen haben, daß sie sich
nicht von Jugend auf an Gottes Wort gehalten hätten.

Am 29. April 1842, früh um 6 Uhr, begab er sich
mit den übrigen Täuflingen an den 1/4 Meile von Berlin
entfernten Rummelsburger See, an dessen Ufer zwei Zelte
zum Auskleiden für beide Geschlechter aufgeschlagen waren.
Jeder mußte seine Kleider bis aufs Hemde ablegen, über
welches ein anderes in Form einer Blouse angelegt und mit
einem Gürtel befestigt wurde. Vor der Taufhandlung wurde
ein Gebet abgehalten, ein Kirchenlied gesungen und ein Text
aus dem neuen Testamente vorgelesen, an welchen der Red¬
ner eine Ermahnung knüpfte, und in letzterer die aufgehende
Sonne als Symbol der Gnadensonne Christi benutzte, welche
ihrem Geiste leuchten, und die in der freien Natur als dem
Tempel Gottes zu vollziehende Taufe heiligen solle. Hierauf
wurde jeder Täufling in den See geführt, woselbst der Red¬
ner ihn mit der linken Hand am Gürtel ergriff, und mit
seiner Rechten den Kopf unter das Wasser drückte, indem
er die Worte aussprach:"ich "ich taufe dich im Namen Gottes
des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes." Die
ganze Handlung war indeß weit entfernt, einen erheben¬
den Eindruck auf W. zu machen, da ein Gemisch der wi¬
derstreitendsten Gefühle sich seiner bemächtigte. Das Schluch¬
zen und Schreien der Weiber, unter denen auch seine 15jäh¬
rige Tochter war, störte eben so sehr seine Andacht, als das
Schaamgefühl, sich öffentlich entkleiden zu müssen, und
dem Gaffen vieler neugierigen Zuschauer ausgesetzt zu sein;
dabei klapperten ihm die Zähne vor Frost, und erst als er
in seine Wohnung zurückgekehrt am Tische niederkniete, um
Gott für die Wiedergeburt in der Taufe zu danken, fühlte

Suͤnden der Gnade Gottes und der geiſtlichen Wiedergeburt
durch eine erneuerte Taufe in einem beſonders hohen Grade
beduͤrftig ſei, und ſo bewarb er ſich um die Aufnahme in die
Gemeinde der Wiedertaͤufer, als an einem Abende diejenigen
aufgerufen wurden, welche dazu bereitwillig waren. Sie alle,
14 an der Zahl, mußten Reue uͤber ihre Suͤnden bezeugen,
und es ſollen Viele unter ihnen geweint, geſeufzt, laut auf¬
geſchrieen und ihr Bedauern ausgeſprochen haben, daß ſie ſich
nicht von Jugend auf an Gottes Wort gehalten haͤtten.

Am 29. April 1842, fruͤh um 6 Uhr, begab er ſich
mit den uͤbrigen Taͤuflingen an den ¼ Meile von Berlin
entfernten Rummelsburger See, an deſſen Ufer zwei Zelte
zum Auskleiden fuͤr beide Geſchlechter aufgeſchlagen waren.
Jeder mußte ſeine Kleider bis aufs Hemde ablegen, uͤber
welches ein anderes in Form einer Blouſe angelegt und mit
einem Guͤrtel befeſtigt wurde. Vor der Taufhandlung wurde
ein Gebet abgehalten, ein Kirchenlied geſungen und ein Text
aus dem neuen Teſtamente vorgeleſen, an welchen der Red¬
ner eine Ermahnung knuͤpfte, und in letzterer die aufgehende
Sonne als Symbol der Gnadenſonne Chriſti benutzte, welche
ihrem Geiſte leuchten, und die in der freien Natur als dem
Tempel Gottes zu vollziehende Taufe heiligen ſolle. Hierauf
wurde jeder Taͤufling in den See gefuͤhrt, woſelbſt der Red¬
ner ihn mit der linken Hand am Guͤrtel ergriff, und mit
ſeiner Rechten den Kopf unter das Waſſer druͤckte, indem
er die Worte ausſprach:„ich „ich taufe dich im Namen Gottes
des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiſtes.” Die
ganze Handlung war indeß weit entfernt, einen erheben¬
den Eindruck auf W. zu machen, da ein Gemiſch der wi¬
derſtreitendſten Gefuͤhle ſich ſeiner bemaͤchtigte. Das Schluch¬
zen und Schreien der Weiber, unter denen auch ſeine 15jaͤh¬
rige Tochter war, ſtoͤrte eben ſo ſehr ſeine Andacht, als das
Schaamgefuͤhl, ſich oͤffentlich entkleiden zu muͤſſen, und
dem Gaffen vieler neugierigen Zuſchauer ausgeſetzt zu ſein;
dabei klapperten ihm die Zaͤhne vor Froſt, und erſt als er
in ſeine Wohnung zuruͤckgekehrt am Tiſche niederkniete, um
Gott fuͤr die Wiedergeburt in der Taufe zu danken, fuͤhlte

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[46/0054] Suͤnden der Gnade Gottes und der geiſtlichen Wiedergeburt durch eine erneuerte Taufe in einem beſonders hohen Grade beduͤrftig ſei, und ſo bewarb er ſich um die Aufnahme in die Gemeinde der Wiedertaͤufer, als an einem Abende diejenigen aufgerufen wurden, welche dazu bereitwillig waren. Sie alle, 14 an der Zahl, mußten Reue uͤber ihre Suͤnden bezeugen, und es ſollen Viele unter ihnen geweint, geſeufzt, laut auf¬ geſchrieen und ihr Bedauern ausgeſprochen haben, daß ſie ſich nicht von Jugend auf an Gottes Wort gehalten haͤtten. Am 29. April 1842, fruͤh um 6 Uhr, begab er ſich mit den uͤbrigen Taͤuflingen an den ¼ Meile von Berlin entfernten Rummelsburger See, an deſſen Ufer zwei Zelte zum Auskleiden fuͤr beide Geſchlechter aufgeſchlagen waren. Jeder mußte ſeine Kleider bis aufs Hemde ablegen, uͤber welches ein anderes in Form einer Blouſe angelegt und mit einem Guͤrtel befeſtigt wurde. Vor der Taufhandlung wurde ein Gebet abgehalten, ein Kirchenlied geſungen und ein Text aus dem neuen Teſtamente vorgeleſen, an welchen der Red¬ ner eine Ermahnung knuͤpfte, und in letzterer die aufgehende Sonne als Symbol der Gnadenſonne Chriſti benutzte, welche ihrem Geiſte leuchten, und die in der freien Natur als dem Tempel Gottes zu vollziehende Taufe heiligen ſolle. Hierauf wurde jeder Taͤufling in den See gefuͤhrt, woſelbſt der Red¬ ner ihn mit der linken Hand am Guͤrtel ergriff, und mit ſeiner Rechten den Kopf unter das Waſſer druͤckte, indem er die Worte ausſprach:„ich „ich taufe dich im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiſtes.” Die ganze Handlung war indeß weit entfernt, einen erheben¬ den Eindruck auf W. zu machen, da ein Gemiſch der wi¬ derſtreitendſten Gefuͤhle ſich ſeiner bemaͤchtigte. Das Schluch¬ zen und Schreien der Weiber, unter denen auch ſeine 15jaͤh¬ rige Tochter war, ſtoͤrte eben ſo ſehr ſeine Andacht, als das Schaamgefuͤhl, ſich oͤffentlich entkleiden zu muͤſſen, und dem Gaffen vieler neugierigen Zuſchauer ausgeſetzt zu ſein; dabei klapperten ihm die Zaͤhne vor Froſt, und erſt als er in ſeine Wohnung zuruͤckgekehrt am Tiſche niederkniete, um Gott fuͤr die Wiedergeburt in der Taufe zu danken, fuͤhlte

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/54>, abgerufen am 06.05.2024.