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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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jetzt nur mit der Bezugnahme auf meinen Grundriß der See¬
lenheilkunde antworten, in welchem ich meine Ansichten von
den Geisteskrankheiten ausführlich erörtert habe. Was die Aus¬
wahl der einzelnen Fälle aus einer sehr großen Zahl von Be¬
obachtungen betrifft, so kam es mir dabei vorzüglich auf ihre
Mannigfaltigkeit an, um die proteusartigen Formen zu schil¬
dern, unter denen der religiöse Wahnsinn erscheint. Daher
habe ich auch mehrere Beispiele aufgenommen, wo derselbe
keinesweges aus einer im früheren Leben vorherrschenden my¬
stischen Frömmigkeit sich entwickelte, sondern gerade im Wider¬
spruch mit einer frivolen Gesinnung und zügellosen Ausschwei¬
fungen entstand, ohne daß er deshalb seine wesentliche Bedeu¬
tung verleugnete. Gerade hierin spricht sich die tiefe Noth¬
wendigkeit des religiösen Bewußtseyns aus, welches in unzer¬
störbarer Anlage des Gemüths gegründet, in allen Zerrüttun¬
gen desselben durch Leidenschaften immer wieder zur Entwicke¬
lung zu kommen strebt, welche freilich in einer entarteten Ver¬
fassung der Seele mehr oder weniger mißlingen muß, und
dann nur in Zerrbildern seine Heiligkeit erscheinen läßt. Be¬
trachtungen dieser Art dürften sich vorzugsweise dazu eignen,
ein helleres Licht auf die hochwichtige Thatsache zu werfen,
daß Denker, welche durch die eigenthümliche Richtung ihres
Geistes sich ganz dem religiösen Interesse entfremdeten, und
alle ihre Begriffe in einem demselben widersprechenden Sinne
ausprägten, dennoch früher oder später durch eine unwider¬
stehliche Nöthigung zu demselben sich hingezogen fühlen. Wenn
z. B. Voltaire, dessen ganzes Leben dem Bekämpfen des
Christenthums geweiht war, dennoch in Krankheiten, und na¬
mentlich auf dem Todtenbette, das Bedürfniß nach einer Aus¬
söhnung mit der katholischen Kirche gefühlt haben soll; so heißt
es jenem unleugbar großen Denker einen sehr schlechten Dienst
erweisen, wenn man diese Thatsache mit der oberflächlichen
Bemerkung des Widerspruchs im menschlichen Gemüthe bündig
abgefertigt zu haben glaubt. Was heißt denn Widerstreit im
Charakter anders, als Gegensatz unter seinen Elementen, von
denen dasjenige, welches durch die systematischen Bestrebungen
eines langen Lebens, durch die schärfsten Waffen eines bis jetzt
noch unübertroffenen dialektischen Witzes, durch den glühend¬

jetzt nur mit der Bezugnahme auf meinen Grundriß der See¬
lenheilkunde antworten, in welchem ich meine Anſichten von
den Geiſteskrankheiten ausfuͤhrlich eroͤrtert habe. Was die Aus¬
wahl der einzelnen Faͤlle aus einer ſehr großen Zahl von Be¬
obachtungen betrifft, ſo kam es mir dabei vorzuͤglich auf ihre
Mannigfaltigkeit an, um die proteusartigen Formen zu ſchil¬
dern, unter denen der religioͤſe Wahnſinn erſcheint. Daher
habe ich auch mehrere Beiſpiele aufgenommen, wo derſelbe
keinesweges aus einer im fruͤheren Leben vorherrſchenden my¬
ſtiſchen Froͤmmigkeit ſich entwickelte, ſondern gerade im Wider¬
ſpruch mit einer frivolen Geſinnung und zuͤgelloſen Ausſchwei¬
fungen entſtand, ohne daß er deshalb ſeine weſentliche Bedeu¬
tung verleugnete. Gerade hierin ſpricht ſich die tiefe Noth¬
wendigkeit des religioͤſen Bewußtſeyns aus, welches in unzer¬
ſtoͤrbarer Anlage des Gemuͤths gegruͤndet, in allen Zerruͤttun¬
gen deſſelben durch Leidenſchaften immer wieder zur Entwicke¬
lung zu kommen ſtrebt, welche freilich in einer entarteten Ver¬
faſſung der Seele mehr oder weniger mißlingen muß, und
dann nur in Zerrbildern ſeine Heiligkeit erſcheinen laͤßt. Be¬
trachtungen dieſer Art duͤrften ſich vorzugsweiſe dazu eignen,
ein helleres Licht auf die hochwichtige Thatſache zu werfen,
daß Denker, welche durch die eigenthuͤmliche Richtung ihres
Geiſtes ſich ganz dem religioͤſen Intereſſe entfremdeten, und
alle ihre Begriffe in einem demſelben widerſprechenden Sinne
auspraͤgten, dennoch fruͤher oder ſpaͤter durch eine unwider¬
ſtehliche Noͤthigung zu demſelben ſich hingezogen fuͤhlen. Wenn
z. B. Voltaire, deſſen ganzes Leben dem Bekaͤmpfen des
Chriſtenthums geweiht war, dennoch in Krankheiten, und na¬
mentlich auf dem Todtenbette, das Beduͤrfniß nach einer Aus¬
ſoͤhnung mit der katholiſchen Kirche gefuͤhlt haben ſoll; ſo heißt
es jenem unleugbar großen Denker einen ſehr ſchlechten Dienſt
erweiſen, wenn man dieſe Thatſache mit der oberflaͤchlichen
Bemerkung des Widerſpruchs im menſchlichen Gemuͤthe buͤndig
abgefertigt zu haben glaubt. Was heißt denn Widerſtreit im
Charakter anders, als Gegenſatz unter ſeinen Elementen, von
denen dasjenige, welches durch die ſyſtematiſchen Beſtrebungen
eines langen Lebens, durch die ſchaͤrfſten Waffen eines bis jetzt
noch unuͤbertroffenen dialektiſchen Witzes, durch den gluͤhend¬

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[24/0032] jetzt nur mit der Bezugnahme auf meinen Grundriß der See¬ lenheilkunde antworten, in welchem ich meine Anſichten von den Geiſteskrankheiten ausfuͤhrlich eroͤrtert habe. Was die Aus¬ wahl der einzelnen Faͤlle aus einer ſehr großen Zahl von Be¬ obachtungen betrifft, ſo kam es mir dabei vorzuͤglich auf ihre Mannigfaltigkeit an, um die proteusartigen Formen zu ſchil¬ dern, unter denen der religioͤſe Wahnſinn erſcheint. Daher habe ich auch mehrere Beiſpiele aufgenommen, wo derſelbe keinesweges aus einer im fruͤheren Leben vorherrſchenden my¬ ſtiſchen Froͤmmigkeit ſich entwickelte, ſondern gerade im Wider¬ ſpruch mit einer frivolen Geſinnung und zuͤgelloſen Ausſchwei¬ fungen entſtand, ohne daß er deshalb ſeine weſentliche Bedeu¬ tung verleugnete. Gerade hierin ſpricht ſich die tiefe Noth¬ wendigkeit des religioͤſen Bewußtſeyns aus, welches in unzer¬ ſtoͤrbarer Anlage des Gemuͤths gegruͤndet, in allen Zerruͤttun¬ gen deſſelben durch Leidenſchaften immer wieder zur Entwicke¬ lung zu kommen ſtrebt, welche freilich in einer entarteten Ver¬ faſſung der Seele mehr oder weniger mißlingen muß, und dann nur in Zerrbildern ſeine Heiligkeit erſcheinen laͤßt. Be¬ trachtungen dieſer Art duͤrften ſich vorzugsweiſe dazu eignen, ein helleres Licht auf die hochwichtige Thatſache zu werfen, daß Denker, welche durch die eigenthuͤmliche Richtung ihres Geiſtes ſich ganz dem religioͤſen Intereſſe entfremdeten, und alle ihre Begriffe in einem demſelben widerſprechenden Sinne auspraͤgten, dennoch fruͤher oder ſpaͤter durch eine unwider¬ ſtehliche Noͤthigung zu demſelben ſich hingezogen fuͤhlen. Wenn z. B. Voltaire, deſſen ganzes Leben dem Bekaͤmpfen des Chriſtenthums geweiht war, dennoch in Krankheiten, und na¬ mentlich auf dem Todtenbette, das Beduͤrfniß nach einer Aus¬ ſoͤhnung mit der katholiſchen Kirche gefuͤhlt haben ſoll; ſo heißt es jenem unleugbar großen Denker einen ſehr ſchlechten Dienſt erweiſen, wenn man dieſe Thatſache mit der oberflaͤchlichen Bemerkung des Widerſpruchs im menſchlichen Gemuͤthe buͤndig abgefertigt zu haben glaubt. Was heißt denn Widerſtreit im Charakter anders, als Gegenſatz unter ſeinen Elementen, von denen dasjenige, welches durch die ſyſtematiſchen Beſtrebungen eines langen Lebens, durch die ſchaͤrfſten Waffen eines bis jetzt noch unuͤbertroffenen dialektiſchen Witzes, durch den gluͤhend¬

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/32>, abgerufen am 27.11.2024.