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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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niß gekommen ist, daß er vor Allem aus dem religiösen Be¬
wußtsein die Weihe und die Kraft zur Vollbringung seines
großen Werks schöpfen muß, erheischt daher auch eine tiefere
Erforschung des frommen Wahnsinns, um alle verborgenen
Quellen aufzufinden, aus denen er wie ein verfinsternder Ne¬
bel aufsteigt, um in der Nacht des Mysticismus die Völker
von der Bahn zur geistig sittlichen Freiheit abzulenken, indem
er sie mit dem verderblichen Irrthum bethört, daß das Feuer¬
zeichen des Fanatismus die flammende Wolke sei, welche Is¬
rael durch die Wüste führte. Da jene Forschung, wie schon
bemerkt, besonders die Aufgabe der psychischen Aerzte sein
muß, so darf mich das Gefühl unzureichender Kräfte nicht
von einem Versuch dazu abschrecken, nachdem ich während der
langen Zeit meines Wirkens an einer großen Irrenheilanstalt
der tägliche Augenzeuge der furchtbaren Seelenleiden gewesen
bin, welche aus einer falsch verstandenen Frömmigkeit ent¬
springen. Wer die außerordentlichen Schwierigkeiten kennt,
welche mit der Eröffnung einer neuen Bahn wissenschaftlicher
Untersuchungen unzertrennlich verbunden sind, muß auch den
Muth der Selbstverleugnung besitzen, um auf die Gefahr eines
Mißlingens seiner Bemühungen gefaßt zu sein. Denn jede
noch zu entdeckende Wahrheit ist ein tief im Schooße der Erde
geborgener Erzgang, zu welchem man einen Stollen hinabtrei¬
ben muß, ohne mit Sicherheit vorher zu wissen, ob man jenen
treffen, oder ganz in seiner Nähe nur auf taubes Gestein
stoßen werde, welches zu Tage gefördert der angestrengten
Arbeit keinen weiteren Lohn, als das Zeugniß der verlorenen
Mühe bringt. Seit Jahren mit Vorliebe dem Studium des
religiösen Wahnsinns ergeben, dessen hochwichtige Bedeutung
mir immer lebendiger entgegentrat, ging ich lange mit mir
darüber zu Rathe, in welcher Form ich am schicklichsten die
Ergebnisse desselben veröffentlichen könnte. Die zweckmäßigste
Weise schien mir die zu sein, zuvörderst eine Reihe von eige¬
nen Beobachtungen mitzutheilen, weil die Psychologie als Er¬
fahrungswissenschaft vor Allem den wesentlichen Thatbestand
ermitteln, und aus ihm auf inductivem Wege die wis¬
senschaftlichen Begriffe entwickeln muß. Jener Thatbestand
wird aber, so weit er den religiösen Wahnsinn betrifft, in

niß gekommen iſt, daß er vor Allem aus dem religioͤſen Be¬
wußtſein die Weihe und die Kraft zur Vollbringung ſeines
großen Werks ſchoͤpfen muß, erheiſcht daher auch eine tiefere
Erforſchung des frommen Wahnſinns, um alle verborgenen
Quellen aufzufinden, aus denen er wie ein verfinſternder Ne¬
bel aufſteigt, um in der Nacht des Myſticismus die Voͤlker
von der Bahn zur geiſtig ſittlichen Freiheit abzulenken, indem
er ſie mit dem verderblichen Irrthum bethoͤrt, daß das Feuer¬
zeichen des Fanatismus die flammende Wolke ſei, welche Is¬
rael durch die Wuͤſte fuͤhrte. Da jene Forſchung, wie ſchon
bemerkt, beſonders die Aufgabe der pſychiſchen Aerzte ſein
muß, ſo darf mich das Gefuͤhl unzureichender Kraͤfte nicht
von einem Verſuch dazu abſchrecken, nachdem ich waͤhrend der
langen Zeit meines Wirkens an einer großen Irrenheilanſtalt
der taͤgliche Augenzeuge der furchtbaren Seelenleiden geweſen
bin, welche aus einer falſch verſtandenen Froͤmmigkeit ent¬
ſpringen. Wer die außerordentlichen Schwierigkeiten kennt,
welche mit der Eroͤffnung einer neuen Bahn wiſſenſchaftlicher
Unterſuchungen unzertrennlich verbunden ſind, muß auch den
Muth der Selbſtverleugnung beſitzen, um auf die Gefahr eines
Mißlingens ſeiner Bemuͤhungen gefaßt zu ſein. Denn jede
noch zu entdeckende Wahrheit iſt ein tief im Schooße der Erde
geborgener Erzgang, zu welchem man einen Stollen hinabtrei¬
ben muß, ohne mit Sicherheit vorher zu wiſſen, ob man jenen
treffen, oder ganz in ſeiner Naͤhe nur auf taubes Geſtein
ſtoßen werde, welches zu Tage gefoͤrdert der angeſtrengten
Arbeit keinen weiteren Lohn, als das Zeugniß der verlorenen
Muͤhe bringt. Seit Jahren mit Vorliebe dem Studium des
religioͤſen Wahnſinns ergeben, deſſen hochwichtige Bedeutung
mir immer lebendiger entgegentrat, ging ich lange mit mir
daruͤber zu Rathe, in welcher Form ich am ſchicklichſten die
Ergebniſſe deſſelben veroͤffentlichen koͤnnte. Die zweckmaͤßigſte
Weiſe ſchien mir die zu ſein, zuvoͤrderſt eine Reihe von eige¬
nen Beobachtungen mitzutheilen, weil die Pſychologie als Er¬
fahrungswiſſenſchaft vor Allem den weſentlichen Thatbeſtand
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[22/0030] niß gekommen iſt, daß er vor Allem aus dem religioͤſen Be¬ wußtſein die Weihe und die Kraft zur Vollbringung ſeines großen Werks ſchoͤpfen muß, erheiſcht daher auch eine tiefere Erforſchung des frommen Wahnſinns, um alle verborgenen Quellen aufzufinden, aus denen er wie ein verfinſternder Ne¬ bel aufſteigt, um in der Nacht des Myſticismus die Voͤlker von der Bahn zur geiſtig ſittlichen Freiheit abzulenken, indem er ſie mit dem verderblichen Irrthum bethoͤrt, daß das Feuer¬ zeichen des Fanatismus die flammende Wolke ſei, welche Is¬ rael durch die Wuͤſte fuͤhrte. Da jene Forſchung, wie ſchon bemerkt, beſonders die Aufgabe der pſychiſchen Aerzte ſein muß, ſo darf mich das Gefuͤhl unzureichender Kraͤfte nicht von einem Verſuch dazu abſchrecken, nachdem ich waͤhrend der langen Zeit meines Wirkens an einer großen Irrenheilanſtalt der taͤgliche Augenzeuge der furchtbaren Seelenleiden geweſen bin, welche aus einer falſch verſtandenen Froͤmmigkeit ent¬ ſpringen. Wer die außerordentlichen Schwierigkeiten kennt, welche mit der Eroͤffnung einer neuen Bahn wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen unzertrennlich verbunden ſind, muß auch den Muth der Selbſtverleugnung beſitzen, um auf die Gefahr eines Mißlingens ſeiner Bemuͤhungen gefaßt zu ſein. Denn jede noch zu entdeckende Wahrheit iſt ein tief im Schooße der Erde geborgener Erzgang, zu welchem man einen Stollen hinabtrei¬ ben muß, ohne mit Sicherheit vorher zu wiſſen, ob man jenen treffen, oder ganz in ſeiner Naͤhe nur auf taubes Geſtein ſtoßen werde, welches zu Tage gefoͤrdert der angeſtrengten Arbeit keinen weiteren Lohn, als das Zeugniß der verlorenen Muͤhe bringt. Seit Jahren mit Vorliebe dem Studium des religioͤſen Wahnſinns ergeben, deſſen hochwichtige Bedeutung mir immer lebendiger entgegentrat, ging ich lange mit mir daruͤber zu Rathe, in welcher Form ich am ſchicklichſten die Ergebniſſe deſſelben veroͤffentlichen koͤnnte. Die zweckmaͤßigſte Weiſe ſchien mir die zu ſein, zuvoͤrderſt eine Reihe von eige¬ nen Beobachtungen mitzutheilen, weil die Pſychologie als Er¬ fahrungswiſſenſchaft vor Allem den weſentlichen Thatbeſtand ermitteln, und aus ihm auf inductivem Wege die wiſ¬ ſenſchaftlichen Begriffe entwickeln muß. Jener Thatbeſtand wird aber, ſo weit er den religioͤſen Wahnſinn betrifft, in

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/30>, abgerufen am 18.04.2024.