Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

worden sind, woraus sich die furchtbaren Verheerungen zur
Genüge erklären, welche durch dasselbe noch immerfort unter
der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzüglichste Mit¬
tel, seiner Entstehung vorzubeugen, und seinen Ausbruch mit
Sicherheit zu bekämpfen, nämlich die Gymnastik, blieb bisher
fast gänzlich von der Erziehung ausgeschlossen. Ich muß mich
hier auf meine allgemeine Diätetik für Gebildete beziehen, wo¬
selbst ich den physiologischen Beweis geführt zu haben glaube,
daß angemessene Muskelanstrengungen die unerlaßlich nothwen¬
dige Bedingung einer harmonischen Durchbildung des Geistes und
Körpers sind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬
starken sollen, an welcher wie an einem gehärteten Stahl kaum
ein Rost sich ansetzen, oder wenigstens leicht wieder abgeschlif¬
fen werden kann. Gerade die einseitige Schulbildung, welche
der körperlichen Entwickelung ihre unveräußerlichen Rechte strei¬
tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in rastlosen
Geistesanstrengungen jene physische Ausmergelung, jene reizbare
Schwäche hervor, welche dem Spiel der Phantasie mit lüster¬
nen Bildern in Ermangelung thatkräftiger Gefühle nur allzu¬
reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt,
denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerstand lei¬
sten kann. Nach dem Grundgesetze der körperlichen Entwicke¬
lung soll der in der Jugend so überreichlich erzeugte physische
Nahrungsstoff zu der rasch fortschreitenden Entwickelung aller
Organe verwandt werden, wozu vor Allem tüchtige Leibesbe¬
wegungen nothwendig sind, welche den Eingeweiden sowie den
Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsstoff an
sich zu ziehen, in sich zu verarbeiten. In Ermangelung dieser
nothwendigen Bedingungen strömt der Bildungssaft um so reich¬
licher nach den Genitalien, je mehr sie durch unnatürliche Lüste
in einen krankhaften Reizzustand versetzt sind, um in ihnen
fortwährend die Flamme der Begierden anzuschüren, deren ver¬
heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬
zureichend im Kampfe gegen die sinnlichen Begierden oft selbst
die Motive der Religion und Sittlichkeit sind, davon giebt uns
das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche
die Unterdrückung der Wollust zu einer Hauptaufgabe ihres
frommen Eifers machten, und sie dennoch nicht durch die här¬

worden ſind, woraus ſich die furchtbaren Verheerungen zur
Genuͤge erklaͤren, welche durch daſſelbe noch immerfort unter
der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzuͤglichſte Mit¬
tel, ſeiner Entſtehung vorzubeugen, und ſeinen Ausbruch mit
Sicherheit zu bekaͤmpfen, naͤmlich die Gymnaſtik, blieb bisher
faſt gaͤnzlich von der Erziehung ausgeschloſſen. Ich muß mich
hier auf meine allgemeine Diaͤtetik fuͤr Gebildete beziehen, wo¬
ſelbſt ich den phyſiologiſchen Beweis gefuͤhrt zu haben glaube,
daß angemeſſene Muskelanſtrengungen die unerlaßlich nothwen¬
dige Bedingung einer harmoniſchen Durchbildung des Geiſtes und
Koͤrpers ſind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬
ſtarken ſollen, an welcher wie an einem gehaͤrteten Stahl kaum
ein Roſt ſich anſetzen, oder wenigſtens leicht wieder abgeſchlif¬
fen werden kann. Gerade die einſeitige Schulbildung, welche
der koͤrperlichen Entwickelung ihre unveraͤußerlichen Rechte ſtrei¬
tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in raſtloſen
Geiſtesanſtrengungen jene phyſiſche Ausmergelung, jene reizbare
Schwaͤche hervor, welche dem Spiel der Phantaſie mit luͤſter¬
nen Bildern in Ermangelung thatkraͤftiger Gefuͤhle nur allzu¬
reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt,
denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerſtand lei¬
ſten kann. Nach dem Grundgeſetze der koͤrperlichen Entwicke¬
lung ſoll der in der Jugend ſo uͤberreichlich erzeugte phyſiſche
Nahrungsſtoff zu der raſch fortſchreitenden Entwickelung aller
Organe verwandt werden, wozu vor Allem tuͤchtige Leibesbe¬
wegungen nothwendig ſind, welche den Eingeweiden ſowie den
Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsſtoff an
ſich zu ziehen, in ſich zu verarbeiten. In Ermangelung dieſer
nothwendigen Bedingungen ſtroͤmt der Bildungsſaft um ſo reich¬
licher nach den Genitalien, je mehr ſie durch unnatuͤrliche Luͤſte
in einen krankhaften Reizzuſtand verſetzt ſind, um in ihnen
fortwaͤhrend die Flamme der Begierden anzuſchuͤren, deren ver¬
heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬
zureichend im Kampfe gegen die ſinnlichen Begierden oft ſelbſt
die Motive der Religion und Sittlichkeit ſind, davon giebt uns
das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche
die Unterdruͤckung der Wolluſt zu einer Hauptaufgabe ihres
frommen Eifers machten, und ſie dennoch nicht durch die haͤr¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0207" n="199"/>
worden &#x017F;ind, woraus &#x017F;ich die furchtbaren Verheerungen zur<lb/>
Genu&#x0364;ge erkla&#x0364;ren, welche durch da&#x017F;&#x017F;elbe noch immerfort unter<lb/>
der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzu&#x0364;glich&#x017F;te Mit¬<lb/>
tel, &#x017F;einer Ent&#x017F;tehung vorzubeugen, und &#x017F;einen Ausbruch mit<lb/>
Sicherheit zu beka&#x0364;mpfen, na&#x0364;mlich die Gymna&#x017F;tik, blieb bisher<lb/>
fa&#x017F;t ga&#x0364;nzlich von der Erziehung ausgeschlo&#x017F;&#x017F;en. Ich muß mich<lb/>
hier auf meine allgemeine Dia&#x0364;tetik fu&#x0364;r Gebildete beziehen, wo¬<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t ich den phy&#x017F;iologi&#x017F;chen Beweis gefu&#x0364;hrt zu haben glaube,<lb/>
daß angeme&#x017F;&#x017F;ene Muskelan&#x017F;trengungen die unerlaßlich nothwen¬<lb/>
dige Bedingung einer harmoni&#x017F;chen Durchbildung des Gei&#x017F;tes und<lb/>
Ko&#x0364;rpers &#x017F;ind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬<lb/>
&#x017F;tarken &#x017F;ollen, an welcher wie an einem geha&#x0364;rteten Stahl kaum<lb/>
ein Ro&#x017F;t &#x017F;ich an&#x017F;etzen, oder wenig&#x017F;tens leicht wieder abge&#x017F;chlif¬<lb/>
fen werden kann. Gerade die ein&#x017F;eitige Schulbildung, welche<lb/>
der ko&#x0364;rperlichen Entwickelung ihre unvera&#x0364;ußerlichen Rechte &#x017F;trei¬<lb/>
tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in ra&#x017F;tlo&#x017F;en<lb/>
Gei&#x017F;tesan&#x017F;trengungen jene phy&#x017F;i&#x017F;che Ausmergelung, jene reizbare<lb/>
Schwa&#x0364;che hervor, welche dem Spiel der Phanta&#x017F;ie mit lu&#x0364;&#x017F;ter¬<lb/>
nen Bildern in Ermangelung thatkra&#x0364;ftiger Gefu&#x0364;hle nur allzu¬<lb/>
reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt,<lb/>
denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Wider&#x017F;tand lei¬<lb/>
&#x017F;ten kann. Nach dem Grundge&#x017F;etze der ko&#x0364;rperlichen Entwicke¬<lb/>
lung &#x017F;oll der in der Jugend &#x017F;o u&#x0364;berreichlich erzeugte phy&#x017F;i&#x017F;che<lb/>
Nahrungs&#x017F;toff zu der ra&#x017F;ch fort&#x017F;chreitenden Entwickelung aller<lb/>
Organe verwandt werden, wozu vor Allem tu&#x0364;chtige Leibesbe¬<lb/>
wegungen nothwendig &#x017F;ind, welche den Eingeweiden &#x017F;owie den<lb/>
Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungs&#x017F;toff an<lb/>
&#x017F;ich zu ziehen, in &#x017F;ich zu verarbeiten. In Ermangelung die&#x017F;er<lb/>
nothwendigen Bedingungen &#x017F;tro&#x0364;mt der Bildungs&#x017F;aft um &#x017F;o reich¬<lb/>
licher nach den Genitalien, je mehr &#x017F;ie durch unnatu&#x0364;rliche Lu&#x0364;&#x017F;te<lb/>
in einen krankhaften Reizzu&#x017F;tand ver&#x017F;etzt &#x017F;ind, um in ihnen<lb/>
fortwa&#x0364;hrend die Flamme der Begierden anzu&#x017F;chu&#x0364;ren, deren ver¬<lb/>
heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬<lb/>
zureichend im Kampfe gegen die &#x017F;innlichen Begierden oft &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die Motive der Religion und Sittlichkeit &#x017F;ind, davon giebt uns<lb/>
das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche<lb/>
die Unterdru&#x0364;ckung der Wollu&#x017F;t zu einer Hauptaufgabe ihres<lb/>
frommen Eifers machten, und &#x017F;ie dennoch nicht durch die ha&#x0364;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0207] worden ſind, woraus ſich die furchtbaren Verheerungen zur Genuͤge erklaͤren, welche durch daſſelbe noch immerfort unter der Jugend angerichtet werden. Denn das vorzuͤglichſte Mit¬ tel, ſeiner Entſtehung vorzubeugen, und ſeinen Ausbruch mit Sicherheit zu bekaͤmpfen, naͤmlich die Gymnaſtik, blieb bisher faſt gaͤnzlich von der Erziehung ausgeschloſſen. Ich muß mich hier auf meine allgemeine Diaͤtetik fuͤr Gebildete beziehen, wo¬ ſelbſt ich den phyſiologiſchen Beweis gefuͤhrt zu haben glaube, daß angemeſſene Muskelanſtrengungen die unerlaßlich nothwen¬ dige Bedingung einer harmoniſchen Durchbildung des Geiſtes und Koͤrpers ſind, wenn beide zu jener lebensvollen Thatkraft er¬ ſtarken ſollen, an welcher wie an einem gehaͤrteten Stahl kaum ein Roſt ſich anſetzen, oder wenigſtens leicht wieder abgeſchlif¬ fen werden kann. Gerade die einſeitige Schulbildung, welche der koͤrperlichen Entwickelung ihre unveraͤußerlichen Rechte ſtrei¬ tig macht, bringt durch Ueberreizung der Nerven in raſtloſen Geiſtesanſtrengungen jene phyſiſche Ausmergelung, jene reizbare Schwaͤche hervor, welche dem Spiel der Phantaſie mit luͤſter¬ nen Bildern in Ermangelung thatkraͤftiger Gefuͤhle nur allzu¬ reichliche Nahrung giebt, und dadurch Begierden entflammt, denen die gebrochene Kraft des Willens nicht Widerſtand lei¬ ſten kann. Nach dem Grundgeſetze der koͤrperlichen Entwicke¬ lung ſoll der in der Jugend ſo uͤberreichlich erzeugte phyſiſche Nahrungsſtoff zu der raſch fortſchreitenden Entwickelung aller Organe verwandt werden, wozu vor Allem tuͤchtige Leibesbe¬ wegungen nothwendig ſind, welche den Eingeweiden ſowie den Muskeln eine hinreichende Kraft verleihen, jenen Nahrungsſtoff an ſich zu ziehen, in ſich zu verarbeiten. In Ermangelung dieſer nothwendigen Bedingungen ſtroͤmt der Bildungsſaft um ſo reich¬ licher nach den Genitalien, je mehr ſie durch unnatuͤrliche Luͤſte in einen krankhaften Reizzuſtand verſetzt ſind, um in ihnen fortwaͤhrend die Flamme der Begierden anzuſchuͤren, deren ver¬ heimlichte Befriedigung ihre Gefahr noch vermehrt. Wie un¬ zureichend im Kampfe gegen die ſinnlichen Begierden oft ſelbſt die Motive der Religion und Sittlichkeit ſind, davon giebt uns das Leben der Anachoreten einen auffallenden Beweis, welche die Unterdruͤckung der Wolluſt zu einer Hauptaufgabe ihres frommen Eifers machten, und ſie dennoch nicht durch die haͤr¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/207
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/207>, abgerufen am 04.05.2024.