dem unwissenden Zuschauer jener magischen Gaukelei ist der Wahnsinnige, welcher den Mechanismus des ihn bethörenden Blendwerks der Phantasie nicht kennt, völlig von der Wirk¬ lichkeit der aus seinem Innern nach außen reflectirten Trug¬ bilder überzeugt, und er wird durch sie ganz in dieselben Ge¬ müthsbewegungen versetzt, wie wenn sie Erscheinungen wirkli¬ cher Wesen wären.
Ist also der Wahnsinn in seiner weitesten Bedeutung der Untergang des Bewußtseins der wirklichen Welt in einer unendli¬ chen Sehnsucht, welche sich eine neue Welt in Bildern und Be¬ griffen erschafft, in denen sie sich zu befriedigen strebt; so er¬ hellt daraus schon, daß durch ihn die gesammte Seelenthätig¬ keit sowohl in Bezug auf die Vorstellungen als Willensan¬ triebe in die höchste Spannung versetzt wird, welche somit den unmittelbaren Gegensatz zu jener irrthümlichen Ansicht von einem passiven Verhalten der Seele während des ersteren aus¬ spricht. Oft freilich sind die Mißverhältnisse, in welche der Geist durch sein gänzliches Losreißen von seinen bisherigen durch die Wirklichkeit bedingten Vorstellungen versetzt wird, zu groß, als daß er sich unter den Trümmern der in seinem Be¬ wußtsein zusammengestürzten Weltordnung zurecht finden könnte. Denn brauchte sein natürlicher Entwickelungsgang schon eine lange Reihe von Jahren, um aus einzelnen Anschauungen, Erfahrungen und objectiven Begriffen ein Bild des Weltgan¬ zen in sich zusammenzusetzen, dessen Bewußtsein die Grund¬ lage seines fortschreitenden Denkens und Handelns ausmacht: woher soll er nun in aller Eile, nachdem Alles für ihn un¬ wahr, widersinnig geworden, ja in ein Chaos zerfallen ist, den Stoff zu einer neuen Welt hernehmen? Indeß wenn auch viele Wahnsinnige an ihrem bisherigen Leben so vollständig irre werden, daß sie nur in faselnder, sinnloser Rede noch ihre Verlegenheit und Unbeholfenheit aussprechen können, welche nothwendig, aus einer so gänzlichen Verwüstung ihrer Denk¬ weise entspringen muß; so arbeiten doch die meisten so unab¬ lässig und angestrengt an einer Reorganisation ihres Bewußt¬ seins, natürlich im Sinne der sie beherrschenden maaßlosen Sehnsucht, daß sie dabei oft eine logisch dialektische Meister¬ schaft, ein bis zum wahren Dichtertalent gesteigertes Wirken
dem unwiſſenden Zuſchauer jener magiſchen Gaukelei iſt der Wahnſinnige, welcher den Mechanismus des ihn bethoͤrenden Blendwerks der Phantaſie nicht kennt, voͤllig von der Wirk¬ lichkeit der aus ſeinem Innern nach außen reflectirten Trug¬ bilder uͤberzeugt, und er wird durch ſie ganz in dieſelben Ge¬ muͤthsbewegungen verſetzt, wie wenn ſie Erſcheinungen wirkli¬ cher Weſen waͤren.
Iſt alſo der Wahnſinn in ſeiner weiteſten Bedeutung der Untergang des Bewußtſeins der wirklichen Welt in einer unendli¬ chen Sehnſucht, welche ſich eine neue Welt in Bildern und Be¬ griffen erſchafft, in denen ſie ſich zu befriedigen ſtrebt; ſo er¬ hellt daraus ſchon, daß durch ihn die geſammte Seelenthaͤtig¬ keit ſowohl in Bezug auf die Vorſtellungen als Willensan¬ triebe in die hoͤchſte Spannung verſetzt wird, welche ſomit den unmittelbaren Gegenſatz zu jener irrthuͤmlichen Anſicht von einem paſſiven Verhalten der Seele waͤhrend des erſteren aus¬ ſpricht. Oft freilich ſind die Mißverhaͤltniſſe, in welche der Geiſt durch ſein gaͤnzliches Losreißen von ſeinen bisherigen durch die Wirklichkeit bedingten Vorſtellungen verſetzt wird, zu groß, als daß er ſich unter den Truͤmmern der in ſeinem Be¬ wußtſein zuſammengeſtuͤrzten Weltordnung zurecht finden koͤnnte. Denn brauchte ſein natuͤrlicher Entwickelungsgang ſchon eine lange Reihe von Jahren, um aus einzelnen Anſchauungen, Erfahrungen und objectiven Begriffen ein Bild des Weltgan¬ zen in ſich zuſammenzuſetzen, deſſen Bewußtſein die Grund¬ lage ſeines fortſchreitenden Denkens und Handelns ausmacht: woher ſoll er nun in aller Eile, nachdem Alles fuͤr ihn un¬ wahr, widerſinnig geworden, ja in ein Chaos zerfallen iſt, den Stoff zu einer neuen Welt hernehmen? Indeß wenn auch viele Wahnſinnige an ihrem bisherigen Leben ſo vollſtaͤndig irre werden, daß ſie nur in faſelnder, ſinnloſer Rede noch ihre Verlegenheit und Unbeholfenheit ausſprechen koͤnnen, welche nothwendig, aus einer ſo gaͤnzlichen Verwuͤſtung ihrer Denk¬ weiſe entſpringen muß; ſo arbeiten doch die meiſten ſo unab¬ laͤſſig und angeſtrengt an einer Reorganiſation ihres Bewußt¬ ſeins, natuͤrlich im Sinne der ſie beherrſchenden maaßloſen Sehnſucht, daß ſie dabei oft eine logiſch dialektiſche Meiſter¬ ſchaft, ein bis zum wahren Dichtertalent geſteigertes Wirken
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dem unwiſſenden Zuſchauer jener magiſchen Gaukelei iſt der
Wahnſinnige, welcher den Mechanismus des ihn bethoͤrenden
Blendwerks der Phantaſie nicht kennt, voͤllig von der Wirk¬
lichkeit der aus ſeinem Innern nach außen reflectirten Trug¬
bilder uͤberzeugt, und er wird durch ſie ganz in dieſelben Ge¬
muͤthsbewegungen verſetzt, wie wenn ſie Erſcheinungen wirkli¬
cher Weſen waͤren.
Iſt alſo der Wahnſinn in ſeiner weiteſten Bedeutung der
Untergang des Bewußtſeins der wirklichen Welt in einer unendli¬
chen Sehnſucht, welche ſich eine neue Welt in Bildern und Be¬
griffen erſchafft, in denen ſie ſich zu befriedigen ſtrebt; ſo er¬
hellt daraus ſchon, daß durch ihn die geſammte Seelenthaͤtig¬
keit ſowohl in Bezug auf die Vorſtellungen als Willensan¬
triebe in die hoͤchſte Spannung verſetzt wird, welche ſomit
den unmittelbaren Gegenſatz zu jener irrthuͤmlichen Anſicht von
einem paſſiven Verhalten der Seele waͤhrend des erſteren aus¬
ſpricht. Oft freilich ſind die Mißverhaͤltniſſe, in welche der
Geiſt durch ſein gaͤnzliches Losreißen von ſeinen bisherigen
durch die Wirklichkeit bedingten Vorſtellungen verſetzt wird, zu
groß, als daß er ſich unter den Truͤmmern der in ſeinem Be¬
wußtſein zuſammengeſtuͤrzten Weltordnung zurecht finden koͤnnte.
Denn brauchte ſein natuͤrlicher Entwickelungsgang ſchon eine
lange Reihe von Jahren, um aus einzelnen Anſchauungen,
Erfahrungen und objectiven Begriffen ein Bild des Weltgan¬
zen in ſich zuſammenzuſetzen, deſſen Bewußtſein die Grund¬
lage ſeines fortſchreitenden Denkens und Handelns ausmacht:
woher ſoll er nun in aller Eile, nachdem Alles fuͤr ihn un¬
wahr, widerſinnig geworden, ja in ein Chaos zerfallen iſt, den
Stoff zu einer neuen Welt hernehmen? Indeß wenn auch viele
Wahnſinnige an ihrem bisherigen Leben ſo vollſtaͤndig irre
werden, daß ſie nur in faſelnder, ſinnloſer Rede noch ihre
Verlegenheit und Unbeholfenheit ausſprechen koͤnnen, welche
nothwendig, aus einer ſo gaͤnzlichen Verwuͤſtung ihrer Denk¬
weiſe entſpringen muß; ſo arbeiten doch die meiſten ſo unab¬
laͤſſig und angeſtrengt an einer Reorganiſation ihres Bewußt¬
ſeins, natuͤrlich im Sinne der ſie beherrſchenden maaßloſen
Sehnſucht, daß ſie dabei oft eine logiſch dialektiſche Meiſter¬
ſchaft, ein bis zum wahren Dichtertalent geſteigertes Wirken
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/18>, abgerufen am 05.07.2024.
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