jener Untergang eine herrschende Vorstellung in ihrem Gemüthe wurde. Wer die Contraste im weiblichen Herzen kennt, wird nicht darüber erstaunen, daß jener Bußprediger, dessen Ana¬ themen in ihrer Brust schauerlich widerhallten, der Gegenstand ihrer Zuneigung wurde. Daß ein reines Liebesbild nicht aus der dumpfen Gährung ihres Herzens auftauchen konnte, son¬ dern daß erotische und religiöse Regungen bei ihr zu jenen formlosen Wallungen unverstandener Gefühle sich vereinigten, welche ihr kaum die Unterscheidung beider von einander ge¬ statteten, und deshalb jede besonnene Reflexion über sie un¬ möglich machten, begreift sich leicht.
Nur in sofern fand eine Uebereinstimmung unter ihren Gemüthsregungen Statt, als sie in ihrer Gesammtheit den Charakter der Schwermuth an sich trugen, welche nirgends durch einen Strahl von Hoffnung erhellt wurde. Diese finstere Stimmung wurde noch trübseeliger, als der Versuch ihres äl¬ testen Bruders, mit den Trümmern des Familienvermögens einen Victualienhandel anzulegen, nach anfangs günstigem Er¬ folge zuletzt gänzlich scheiterte, und dadurch die Bedrängniß der Familie fast bis zur wirklichen Noth steigerte. Die H. versank nun mit jedem Tage tiefer in Trostlosigkeit, so daß sie zu jeder Beschäftigung unfähig wurde, die Nacht schlaflos zubrachte, ja ihr Leiden erreichte binnen wenigen Wochen eine solche Höhe, daß sie am 23. März 1842 in die Charite auf¬ genommen werden mußte. Hier verrieth sie eine bis zur Angst gesteigerte Unruhe, welche sie zu häufigem Jammern und Weh¬ klagen antrieb; zugleich war sie so verworren und befangen, daß sie über den Grund ihres bangen Gefühls keinen Auf¬ schluß geben konnte. Bald klagte sie sich als eine schwere Sünderin an, welche zeitliche und ewige Strafen zu fürchten habe, ließ aber jede Frage nach dem Motive ihrer Selbst¬ anklage unbeantwortet; bald schrieb sie ihre Angst der Entfer¬ nung von ihren Aeltern zu, oder sie fürchtete sich vor Ver¬ giftung, und sträubte sich daher mit großer Hartnäckigkeit ge¬ gen den Genuß der Speisen und Arzneien, welche ihr nur mit Mühe eingeflößt werden konnten. Noch jetzt ist ihr erin¬ nerlich, daß damals aus der Erinnerung an den verkündeten baldigen Untergang der Welt die Vorstellung von dem nahen
jener Untergang eine herrſchende Vorſtellung in ihrem Gemuͤthe wurde. Wer die Contraſte im weiblichen Herzen kennt, wird nicht daruͤber erſtaunen, daß jener Bußprediger, deſſen Ana¬ themen in ihrer Bruſt ſchauerlich widerhallten, der Gegenſtand ihrer Zuneigung wurde. Daß ein reines Liebesbild nicht aus der dumpfen Gaͤhrung ihres Herzens auftauchen konnte, ſon¬ dern daß erotiſche und religioͤſe Regungen bei ihr zu jenen formloſen Wallungen unverſtandener Gefuͤhle ſich vereinigten, welche ihr kaum die Unterſcheidung beider von einander ge¬ ſtatteten, und deshalb jede beſonnene Reflexion uͤber ſie un¬ moͤglich machten, begreift ſich leicht.
Nur in ſofern fand eine Uebereinſtimmung unter ihren Gemuͤthsregungen Statt, als ſie in ihrer Geſammtheit den Charakter der Schwermuth an ſich trugen, welche nirgends durch einen Strahl von Hoffnung erhellt wurde. Dieſe finſtere Stimmung wurde noch truͤbſeeliger, als der Verſuch ihres aͤl¬ teſten Bruders, mit den Truͤmmern des Familienvermoͤgens einen Victualienhandel anzulegen, nach anfangs guͤnſtigem Er¬ folge zuletzt gaͤnzlich ſcheiterte, und dadurch die Bedraͤngniß der Familie faſt bis zur wirklichen Noth ſteigerte. Die H. verſank nun mit jedem Tage tiefer in Troſtloſigkeit, ſo daß ſie zu jeder Beſchaͤftigung unfaͤhig wurde, die Nacht ſchlaflos zubrachte, ja ihr Leiden erreichte binnen wenigen Wochen eine ſolche Hoͤhe, daß ſie am 23. Maͤrz 1842 in die Charité auf¬ genommen werden mußte. Hier verrieth ſie eine bis zur Angſt geſteigerte Unruhe, welche ſie zu haͤufigem Jammern und Weh¬ klagen antrieb; zugleich war ſie ſo verworren und befangen, daß ſie uͤber den Grund ihres bangen Gefuͤhls keinen Auf¬ ſchluß geben konnte. Bald klagte ſie ſich als eine ſchwere Suͤnderin an, welche zeitliche und ewige Strafen zu fuͤrchten habe, ließ aber jede Frage nach dem Motive ihrer Selbſt¬ anklage unbeantwortet; bald ſchrieb ſie ihre Angſt der Entfer¬ nung von ihren Aeltern zu, oder ſie fuͤrchtete ſich vor Ver¬ giftung, und ſtraͤubte ſich daher mit großer Hartnaͤckigkeit ge¬ gen den Genuß der Speiſen und Arzneien, welche ihr nur mit Muͤhe eingefloͤßt werden konnten. Noch jetzt iſt ihr erin¬ nerlich, daß damals aus der Erinnerung an den verkuͤndeten baldigen Untergang der Welt die Vorſtellung von dem nahen
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jener Untergang eine herrſchende Vorſtellung in ihrem Gemuͤthe
wurde. Wer die Contraſte im weiblichen Herzen kennt, wird
nicht daruͤber erſtaunen, daß jener Bußprediger, deſſen Ana¬
themen in ihrer Bruſt ſchauerlich widerhallten, der Gegenſtand
ihrer Zuneigung wurde. Daß ein reines Liebesbild nicht aus
der dumpfen Gaͤhrung ihres Herzens auftauchen konnte, ſon¬
dern daß erotiſche und religioͤſe Regungen bei ihr zu jenen
formloſen Wallungen unverſtandener Gefuͤhle ſich vereinigten,
welche ihr kaum die Unterſcheidung beider von einander ge¬
ſtatteten, und deshalb jede beſonnene Reflexion uͤber ſie un¬
moͤglich machten, begreift ſich leicht.
Nur in ſofern fand eine Uebereinſtimmung unter ihren
Gemuͤthsregungen Statt, als ſie in ihrer Geſammtheit den
Charakter der Schwermuth an ſich trugen, welche nirgends
durch einen Strahl von Hoffnung erhellt wurde. Dieſe finſtere
Stimmung wurde noch truͤbſeeliger, als der Verſuch ihres aͤl¬
teſten Bruders, mit den Truͤmmern des Familienvermoͤgens
einen Victualienhandel anzulegen, nach anfangs guͤnſtigem Er¬
folge zuletzt gaͤnzlich ſcheiterte, und dadurch die Bedraͤngniß
der Familie faſt bis zur wirklichen Noth ſteigerte. Die H.
verſank nun mit jedem Tage tiefer in Troſtloſigkeit, ſo daß
ſie zu jeder Beſchaͤftigung unfaͤhig wurde, die Nacht ſchlaflos
zubrachte, ja ihr Leiden erreichte binnen wenigen Wochen eine
ſolche Hoͤhe, daß ſie am 23. Maͤrz 1842 in die Charité auf¬
genommen werden mußte. Hier verrieth ſie eine bis zur Angſt
geſteigerte Unruhe, welche ſie zu haͤufigem Jammern und Weh¬
klagen antrieb; zugleich war ſie ſo verworren und befangen,
daß ſie uͤber den Grund ihres bangen Gefuͤhls keinen Auf¬
ſchluß geben konnte. Bald klagte ſie ſich als eine ſchwere
Suͤnderin an, welche zeitliche und ewige Strafen zu fuͤrchten
habe, ließ aber jede Frage nach dem Motive ihrer Selbſt¬
anklage unbeantwortet; bald ſchrieb ſie ihre Angſt der Entfer¬
nung von ihren Aeltern zu, oder ſie fuͤrchtete ſich vor Ver¬
giftung, und ſtraͤubte ſich daher mit großer Hartnaͤckigkeit ge¬
gen den Genuß der Speiſen und Arzneien, welche ihr nur
mit Muͤhe eingefloͤßt werden konnten. Noch jetzt iſt ihr erin¬
nerlich, daß damals aus der Erinnerung an den verkuͤndeten
baldigen Untergang der Welt die Vorſtellung von dem nahen
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/165>, abgerufen am 26.07.2024.
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