Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.So lange die Leidenschaft noch irgend eine Möglichkeit So lange die Leidenſchaft noch irgend eine Moͤglichkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0016" n="8"/> <p>So lange die Leidenſchaft noch irgend eine Moͤglichkeit<lb/> zur Erreichung ihrer Zwecke vor ſich ſieht, arbeitet ſie auch<lb/> gewiß auf dieſelbe hin, und ſchaͤrft daher den Verſtandesge¬<lb/> brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald ſie<lb/> aber zu einem ſolchen Grade der Entwickelung gediehen iſt,<lb/> daß ihre Sehnſucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit<lb/> mehr finden kann, muß ſie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬<lb/> nen voͤllig veraͤnderten Charakter annehmen. Sie ſollte ſich<lb/> freilich maͤßigen, wenn ſie des abſoluten Widerſpruchs zwiſchen<lb/> ihrer Sehnſucht und der Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung inne wird;<lb/> aber eben als despotiſch herrſchendes Verlangen kennt ſie keine<lb/> Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdruͤckten uͤbrigen<lb/> Neigungen keinen Einhalt thun koͤnnen. Sie ſtrebt alſo raſt¬<lb/> los weiter, und wendet ſich von der Wirklichkeit ab, in wel¬<lb/> cher ſie keinen Raum mehr findet, d. h. ſie muß aus dem Be¬<lb/> wußtſein alle Vorſtellungen verbannen, durch welche ſie an<lb/> die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher ſie entſchieden<lb/> gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtſein nach Vertilgung<lb/> der objectiven Vorſtellungen von der wirklichen Welt eine in¬<lb/> haltsleere Oede, ſo wuͤrde die ungeſtillte Sehnſucht in dum¬<lb/> pfen Gefuͤhlen ſich abquaͤlen muͤſſen, welches mit dem raſtloſen<lb/> Streben des Geiſtes nach beſtimmter Auspraͤgung und Geſtal¬<lb/> tung aller ſeiner Regungen durchaus unvereinbar iſt. Nach¬<lb/> dem alſo die unbefriedigte Leidenſchaft im Bewußtſein die<lb/> wirkliche Welt in Truͤmmer zerſchlagen hat, muß ſie in dem¬<lb/> ſelben eine neue erſchaffen, deren Geſetz eben ihr Intereſſe iſt,<lb/> welches ſie in den rieſenhaften Bildern einer gluͤhenden Phan¬<lb/> taſie ſich vergegenwaͤrtigt, und mit den Trugbegriffen eines<lb/> irregeleiteten Verſtandes vor ſich zu rechtfertigen ſucht. Gleich¬<lb/> wie jede Dichtung nicht mit uranfaͤnglicher Schoͤpfungskraft<lb/> ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, ſondern ſie nur<lb/> zu einem idealen Gebilde zuſammenſetzen kann; eben ſo muß<lb/> die von der unbefriedigten Leidenſchaft neugeborene Welt, ob¬<lb/> gleich mit der Wirklichkeit uͤberall im grellſten Widerſtreit, doch<lb/> von ihr den Bildungsſtoff entlehnen, den ſie nur nach ganz<lb/> anderen Geſetzen und Verhaͤltniſſen zu neuen Formen geſtaltet.<lb/> Dies iſt der weſentliche Urſprung des Wahnſinns, welcher frei¬<lb/> lich in ſo tauſendfaͤltigen Verſchiedenheiten auftritt, daß ich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0016]
So lange die Leidenſchaft noch irgend eine Moͤglichkeit
zur Erreichung ihrer Zwecke vor ſich ſieht, arbeitet ſie auch
gewiß auf dieſelbe hin, und ſchaͤrft daher den Verſtandesge¬
brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald ſie
aber zu einem ſolchen Grade der Entwickelung gediehen iſt,
daß ihre Sehnſucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit
mehr finden kann, muß ſie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬
nen voͤllig veraͤnderten Charakter annehmen. Sie ſollte ſich
freilich maͤßigen, wenn ſie des abſoluten Widerſpruchs zwiſchen
ihrer Sehnſucht und der Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung inne wird;
aber eben als despotiſch herrſchendes Verlangen kennt ſie keine
Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdruͤckten uͤbrigen
Neigungen keinen Einhalt thun koͤnnen. Sie ſtrebt alſo raſt¬
los weiter, und wendet ſich von der Wirklichkeit ab, in wel¬
cher ſie keinen Raum mehr findet, d. h. ſie muß aus dem Be¬
wußtſein alle Vorſtellungen verbannen, durch welche ſie an
die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher ſie entſchieden
gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtſein nach Vertilgung
der objectiven Vorſtellungen von der wirklichen Welt eine in¬
haltsleere Oede, ſo wuͤrde die ungeſtillte Sehnſucht in dum¬
pfen Gefuͤhlen ſich abquaͤlen muͤſſen, welches mit dem raſtloſen
Streben des Geiſtes nach beſtimmter Auspraͤgung und Geſtal¬
tung aller ſeiner Regungen durchaus unvereinbar iſt. Nach¬
dem alſo die unbefriedigte Leidenſchaft im Bewußtſein die
wirkliche Welt in Truͤmmer zerſchlagen hat, muß ſie in dem¬
ſelben eine neue erſchaffen, deren Geſetz eben ihr Intereſſe iſt,
welches ſie in den rieſenhaften Bildern einer gluͤhenden Phan¬
taſie ſich vergegenwaͤrtigt, und mit den Trugbegriffen eines
irregeleiteten Verſtandes vor ſich zu rechtfertigen ſucht. Gleich¬
wie jede Dichtung nicht mit uranfaͤnglicher Schoͤpfungskraft
ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, ſondern ſie nur
zu einem idealen Gebilde zuſammenſetzen kann; eben ſo muß
die von der unbefriedigten Leidenſchaft neugeborene Welt, ob¬
gleich mit der Wirklichkeit uͤberall im grellſten Widerſtreit, doch
von ihr den Bildungsſtoff entlehnen, den ſie nur nach ganz
anderen Geſetzen und Verhaͤltniſſen zu neuen Formen geſtaltet.
Dies iſt der weſentliche Urſprung des Wahnſinns, welcher frei¬
lich in ſo tauſendfaͤltigen Verſchiedenheiten auftritt, daß ich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |