So lange die Leidenschaft noch irgend eine Möglichkeit zur Erreichung ihrer Zwecke vor sich sieht, arbeitet sie auch gewiß auf dieselbe hin, und schärft daher den Verstandesge¬ brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald sie aber zu einem solchen Grade der Entwickelung gediehen ist, daß ihre Sehnsucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit mehr finden kann, muß sie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬ nen völlig veränderten Charakter annehmen. Sie sollte sich freilich mäßigen, wenn sie des absoluten Widerspruchs zwischen ihrer Sehnsucht und der Möglichkeit ihrer Erfüllung inne wird; aber eben als despotisch herrschendes Verlangen kennt sie keine Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdrückten übrigen Neigungen keinen Einhalt thun können. Sie strebt also rast¬ los weiter, und wendet sich von der Wirklichkeit ab, in wel¬ cher sie keinen Raum mehr findet, d. h. sie muß aus dem Be¬ wußtsein alle Vorstellungen verbannen, durch welche sie an die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher sie entschieden gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtsein nach Vertilgung der objectiven Vorstellungen von der wirklichen Welt eine in¬ haltsleere Oede, so würde die ungestillte Sehnsucht in dum¬ pfen Gefühlen sich abquälen müssen, welches mit dem rastlosen Streben des Geistes nach bestimmter Ausprägung und Gestal¬ tung aller seiner Regungen durchaus unvereinbar ist. Nach¬ dem also die unbefriedigte Leidenschaft im Bewußtsein die wirkliche Welt in Trümmer zerschlagen hat, muß sie in dem¬ selben eine neue erschaffen, deren Gesetz eben ihr Interesse ist, welches sie in den riesenhaften Bildern einer glühenden Phan¬ tasie sich vergegenwärtigt, und mit den Trugbegriffen eines irregeleiteten Verstandes vor sich zu rechtfertigen sucht. Gleich¬ wie jede Dichtung nicht mit uranfänglicher Schöpfungskraft ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, sondern sie nur zu einem idealen Gebilde zusammensetzen kann; eben so muß die von der unbefriedigten Leidenschaft neugeborene Welt, ob¬ gleich mit der Wirklichkeit überall im grellsten Widerstreit, doch von ihr den Bildungsstoff entlehnen, den sie nur nach ganz anderen Gesetzen und Verhältnissen zu neuen Formen gestaltet. Dies ist der wesentliche Ursprung des Wahnsinns, welcher frei¬ lich in so tausendfältigen Verschiedenheiten auftritt, daß ich
So lange die Leidenſchaft noch irgend eine Moͤglichkeit zur Erreichung ihrer Zwecke vor ſich ſieht, arbeitet ſie auch gewiß auf dieſelbe hin, und ſchaͤrft daher den Verſtandesge¬ brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald ſie aber zu einem ſolchen Grade der Entwickelung gediehen iſt, daß ihre Sehnſucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit mehr finden kann, muß ſie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬ nen voͤllig veraͤnderten Charakter annehmen. Sie ſollte ſich freilich maͤßigen, wenn ſie des abſoluten Widerſpruchs zwiſchen ihrer Sehnſucht und der Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung inne wird; aber eben als despotiſch herrſchendes Verlangen kennt ſie keine Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdruͤckten uͤbrigen Neigungen keinen Einhalt thun koͤnnen. Sie ſtrebt alſo raſt¬ los weiter, und wendet ſich von der Wirklichkeit ab, in wel¬ cher ſie keinen Raum mehr findet, d. h. ſie muß aus dem Be¬ wußtſein alle Vorſtellungen verbannen, durch welche ſie an die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher ſie entſchieden gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtſein nach Vertilgung der objectiven Vorſtellungen von der wirklichen Welt eine in¬ haltsleere Oede, ſo wuͤrde die ungeſtillte Sehnſucht in dum¬ pfen Gefuͤhlen ſich abquaͤlen muͤſſen, welches mit dem raſtloſen Streben des Geiſtes nach beſtimmter Auspraͤgung und Geſtal¬ tung aller ſeiner Regungen durchaus unvereinbar iſt. Nach¬ dem alſo die unbefriedigte Leidenſchaft im Bewußtſein die wirkliche Welt in Truͤmmer zerſchlagen hat, muß ſie in dem¬ ſelben eine neue erſchaffen, deren Geſetz eben ihr Intereſſe iſt, welches ſie in den rieſenhaften Bildern einer gluͤhenden Phan¬ taſie ſich vergegenwaͤrtigt, und mit den Trugbegriffen eines irregeleiteten Verſtandes vor ſich zu rechtfertigen ſucht. Gleich¬ wie jede Dichtung nicht mit uranfaͤnglicher Schoͤpfungskraft ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, ſondern ſie nur zu einem idealen Gebilde zuſammenſetzen kann; eben ſo muß die von der unbefriedigten Leidenſchaft neugeborene Welt, ob¬ gleich mit der Wirklichkeit uͤberall im grellſten Widerſtreit, doch von ihr den Bildungsſtoff entlehnen, den ſie nur nach ganz anderen Geſetzen und Verhaͤltniſſen zu neuen Formen geſtaltet. Dies iſt der weſentliche Urſprung des Wahnſinns, welcher frei¬ lich in ſo tauſendfaͤltigen Verſchiedenheiten auftritt, daß ich
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So lange die Leidenſchaft noch irgend eine Moͤglichkeit
zur Erreichung ihrer Zwecke vor ſich ſieht, arbeitet ſie auch
gewiß auf dieſelbe hin, und ſchaͤrft daher den Verſtandesge¬
brauch, um nicht in den Mitteln fehl zu greifen. Sobald ſie
aber zu einem ſolchen Grade der Entwickelung gediehen iſt,
daß ihre Sehnſucht gar keine Befriedigung in der Wirklichkeit
mehr finden kann, muß ſie auch in ihrem ganzen Wirken ei¬
nen voͤllig veraͤnderten Charakter annehmen. Sie ſollte ſich
freilich maͤßigen, wenn ſie des abſoluten Widerſpruchs zwiſchen
ihrer Sehnſucht und der Moͤglichkeit ihrer Erfuͤllung inne wird;
aber eben als despotiſch herrſchendes Verlangen kennt ſie keine
Grenzen ihres Strebens mehr, dem die unterdruͤckten uͤbrigen
Neigungen keinen Einhalt thun koͤnnen. Sie ſtrebt alſo raſt¬
los weiter, und wendet ſich von der Wirklichkeit ab, in wel¬
cher ſie keinen Raum mehr findet, d. h. ſie muß aus dem Be¬
wußtſein alle Vorſtellungen verbannen, durch welche ſie an
die wirkliche Welt erinnert wird, mit welcher ſie entſchieden
gebrochen hat. Bliebe nun das Bewußtſein nach Vertilgung
der objectiven Vorſtellungen von der wirklichen Welt eine in¬
haltsleere Oede, ſo wuͤrde die ungeſtillte Sehnſucht in dum¬
pfen Gefuͤhlen ſich abquaͤlen muͤſſen, welches mit dem raſtloſen
Streben des Geiſtes nach beſtimmter Auspraͤgung und Geſtal¬
tung aller ſeiner Regungen durchaus unvereinbar iſt. Nach¬
dem alſo die unbefriedigte Leidenſchaft im Bewußtſein die
wirkliche Welt in Truͤmmer zerſchlagen hat, muß ſie in dem¬
ſelben eine neue erſchaffen, deren Geſetz eben ihr Intereſſe iſt,
welches ſie in den rieſenhaften Bildern einer gluͤhenden Phan¬
taſie ſich vergegenwaͤrtigt, und mit den Trugbegriffen eines
irregeleiteten Verſtandes vor ſich zu rechtfertigen ſucht. Gleich¬
wie jede Dichtung nicht mit uranfaͤnglicher Schoͤpfungskraft
ganz neue Elemente der Dinge hervorbringen, ſondern ſie nur
zu einem idealen Gebilde zuſammenſetzen kann; eben ſo muß
die von der unbefriedigten Leidenſchaft neugeborene Welt, ob¬
gleich mit der Wirklichkeit uͤberall im grellſten Widerſtreit, doch
von ihr den Bildungsſtoff entlehnen, den ſie nur nach ganz
anderen Geſetzen und Verhaͤltniſſen zu neuen Formen geſtaltet.
Dies iſt der weſentliche Urſprung des Wahnſinns, welcher frei¬
lich in ſo tauſendfaͤltigen Verſchiedenheiten auftritt, daß ich
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/16>, abgerufen am 05.07.2024.
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