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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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ihre Gemeinschaft mit der Außenwelt wieder herzustellen. Was
bliebe auch dem Arzte unter so mißlichen Umständen zu thun
übrig, wo weder die Philosophie noch die Apotheke irgend ein
Heilmittel darbietet? Viele Aerzte, namentlich Pinel und seine
Schüler, rathen, man solle sich unter solchen Bedingungen jedes
eingreifenden Verfahrens enthalten, für die Befriedigung der
körperlichen Bedürfnisse Sorge tragen, und im übrigen gedul¬
dig die Zeit abwarten, wo aus unerforschlichen Bedingungen
durch die Heilkraft der Natur eine günstige Wendung herbei¬
geführt werde. Wir wollen nicht leugnen, daß die Macht der
Leidenschaften sich häufig an ihrem eigenen Ungestüm bricht,
daß die erschöpften geistigen und körperlichen Kräfte endlich dem
Toben des Gemüths Schweigen gebieten, und daß alsdann
unter sorgfältiger Vermeidung aller Schädlichkeiten die Beson¬
nenheit von selbst wiederkehren kann. Aber ein solcher günsti¬
ger Ausgang ist stets ungewiß, wird nur zu häufig durch die
in wiederholten Ausbrüchen zum höchsten Uebermaaß sich stei¬
gernden Leidenschaften vereitelt, so daß die endlich eintretende
Ruhe nicht die der wiederkehrenden Besinnung, sondern das
Grab aller Geisteskraft im Blödsinn ist, nachdem die rastlosen
Stürme der Seele zuletzt die Energie des Nervensystems gänz¬
lich vernichtet hatten. Wir dürfen es daher unbedenklich als
einen wesentlichen Fortschritt der Psychiatrie anerkennen, daß
durch die Anwendung der oben genannten Mittel, freilich un¬
ter gewissen hier nicht zu erörternden Einschränkungen, ohne
alle Gefahr und sonstige nachtheilige Folgen ein wesentlicher
Umschwung der gesammten Seelenthätigkeit, geradezu ein Er¬
wecken des in die Traumnacht des Wahnsinns versunkenen
Verstandes eben so bewirkt werden kann, wie jede Exaltation
der Geistes- und Gemüthskraft auch im gesunden Zustande
fast unfehlbar verschwindet, wenn das Nervensystem einen hef¬
tigen Anstoß von irgend einer Seite her erhalten hat.

Nachdem bei der L. längere Zeit hindurch die Douche ohne
allen wesentlichen Erfolg in Anwendung gesetzt worden war,
mußte ich mich endlich zum Gebrauch der Brechweinsteinsalbe,
welche auf dem kahl geschorenen Scheitel eingerieben wurde,
entschießen, und auch diese brachte erst den günstigen Erfolg
hervor, nachdem die durch sie veranlaßte Eiterung und Ent¬

ihre Gemeinſchaft mit der Außenwelt wieder herzuſtellen. Was
bliebe auch dem Arzte unter ſo mißlichen Umſtaͤnden zu thun
uͤbrig, wo weder die Philoſophie noch die Apotheke irgend ein
Heilmittel darbietet? Viele Aerzte, namentlich Pinel und ſeine
Schuͤler, rathen, man ſolle ſich unter ſolchen Bedingungen jedes
eingreifenden Verfahrens enthalten, fuͤr die Befriedigung der
koͤrperlichen Beduͤrfniſſe Sorge tragen, und im uͤbrigen gedul¬
dig die Zeit abwarten, wo aus unerforſchlichen Bedingungen
durch die Heilkraft der Natur eine guͤnſtige Wendung herbei¬
gefuͤhrt werde. Wir wollen nicht leugnen, daß die Macht der
Leidenſchaften ſich haͤufig an ihrem eigenen Ungeſtuͤm bricht,
daß die erſchoͤpften geiſtigen und koͤrperlichen Kraͤfte endlich dem
Toben des Gemuͤths Schweigen gebieten, und daß alsdann
unter ſorgfaͤltiger Vermeidung aller Schaͤdlichkeiten die Beſon¬
nenheit von ſelbſt wiederkehren kann. Aber ein ſolcher guͤnſti¬
ger Ausgang iſt ſtets ungewiß, wird nur zu haͤufig durch die
in wiederholten Ausbruͤchen zum hoͤchſten Uebermaaß ſich ſtei¬
gernden Leidenſchaften vereitelt, ſo daß die endlich eintretende
Ruhe nicht die der wiederkehrenden Beſinnung, ſondern das
Grab aller Geiſteskraft im Bloͤdſinn iſt, nachdem die raſtloſen
Stuͤrme der Seele zuletzt die Energie des Nervenſyſtems gaͤnz¬
lich vernichtet hatten. Wir duͤrfen es daher unbedenklich als
einen weſentlichen Fortſchritt der Pſychiatrie anerkennen, daß
durch die Anwendung der oben genannten Mittel, freilich un¬
ter gewiſſen hier nicht zu eroͤrternden Einſchraͤnkungen, ohne
alle Gefahr und ſonstige nachtheilige Folgen ein weſentlicher
Umſchwung der geſammten Seelenthaͤtigkeit, geradezu ein Er¬
wecken des in die Traumnacht des Wahnſinns verſunkenen
Verſtandes eben ſo bewirkt werden kann, wie jede Exaltation
der Geiſtes- und Gemuͤthskraft auch im geſunden Zuſtande
faſt unfehlbar verſchwindet, wenn das Nervenſyſtem einen hef¬
tigen Anſtoß von irgend einer Seite her erhalten hat.

Nachdem bei der L. laͤngere Zeit hindurch die Douche ohne
allen weſentlichen Erfolg in Anwendung geſetzt worden war,
mußte ich mich endlich zum Gebrauch der Brechweinſteinſalbe,
welche auf dem kahl geſchorenen Scheitel eingerieben wurde,
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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/145>, abgerufen am 22.11.2024.