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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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halten zu haben glaubte. Früher hatte noch ihr inniges Mut¬
tergefühl sich in Ausbrüchen der Verzweiflung dagegen gesträubt;
aber im gräßlichen Seelenschmerze verstummte zuletzt auch jene
mächtige Stimme der Natur, so daß sie in dumpfer Betäu¬
bung sich sagte, es solle so sein, sie müsse es thun, wobei ihr
in dunkler Erinnerung das Bild des den Isaak opfernden Abra¬
ham vorschwebte. Ueberhaupt kam ihr die Welt wie verödet
und ausgestorben vor, als wenn sie nach dem Verlust aller
ihrer Angehörigen allein in derselben zurückgeblieben sei, und
sie konnte noch nach ihrer Heilung nicht Worte finden, die
furchtbaren Quaalen zu schildern, in welchen sie damals zu
Boden gedrückt war. Hieraus erklärt sich auch die Erstarrung
ihres ganzen Wesens, so daß ihre ursprünglich höchst beweg¬
liche Phantasie, welche außerdem die herrschenden Wahnvorstel¬
lungen gewiß zu einer Menge von Dichtungen verarbeitet ha¬
ben würde, gleichsam gelähmt war, und ihr geistiges Auge
von dem Gedanken des Opfers wie von einem Medusenantlitz
gefesselt wurde.

Erst zu Ende Octobers trat ein scheinbarer Nachlaß ihrer
Angst ein, indem sie äußerte, daß ein solches Opfer nicht Gott
wohlgefällig sein könne, wenn sie auch noch gelegentlich Stim¬
men hörte, welche dasselbe von ihr forderten. Ja es erwachte
selbst eine so lebhafte Sehnsucht nach den Ihrigen, daß dieselbe
sich in neuen Stimmen reflectirte, welche ihr zuriefen, daß sie
nach Hause zurückkehren solle. Indeß diese scheinbare Besse¬
rung war nur von kurzer Dauer, denn am Abend des 8. No¬
vember wurde sie plötzlich wieder sehr unruhig, sprang vom
Stuhl auf, weil sie vom Teufel verfolgt zu sein glaubte,
welcher ihr zuerst als ein schwarzer Schatten an der im Zim¬
mer hängenden Lampe erschienen, und hierauf durch das Zim¬
mer über dem ihrigen gelaufen sei. Sie umklammerte fest jene
Lampe, indem sie behauptete, daß nur dann der Teufel keine
Macht über sie habe, wenn sie jene festhalte, und konnte nur
mit Mühe von derselben entfernt werden. Ihre hierdurch ver¬
anlaßte Angst dauerte lange fort, und hatte den Ausbruch eines
reichlichen Schweißes auf dem Gesicht zur Folge, bis sie sich
endlich beruhigte, und selbst anerkannte, daß ihre aufgeregte
Phantasie ihr einen Streich gespielt, und unter Anderem auch

halten zu haben glaubte. Fruͤher hatte noch ihr inniges Mut¬
tergefuͤhl ſich in Ausbruͤchen der Verzweiflung dagegen geſtraͤubt;
aber im graͤßlichen Seelenſchmerze verſtummte zuletzt auch jene
maͤchtige Stimme der Natur, ſo daß ſie in dumpfer Betaͤu¬
bung ſich ſagte, es ſolle ſo ſein, ſie muͤſſe es thun, wobei ihr
in dunkler Erinnerung das Bild des den Iſaak opfernden Abra¬
ham vorſchwebte. Ueberhaupt kam ihr die Welt wie veroͤdet
und ausgeſtorben vor, als wenn ſie nach dem Verluſt aller
ihrer Angehoͤrigen allein in derſelben zuruͤckgeblieben ſei, und
ſie konnte noch nach ihrer Heilung nicht Worte finden, die
furchtbaren Quaalen zu ſchildern, in welchen ſie damals zu
Boden gedruͤckt war. Hieraus erklaͤrt ſich auch die Erſtarrung
ihres ganzen Weſens, ſo daß ihre urſpruͤnglich hoͤchſt beweg¬
liche Phantaſie, welche außerdem die herrſchenden Wahnvorſtel¬
lungen gewiß zu einer Menge von Dichtungen verarbeitet ha¬
ben wuͤrde, gleichſam gelaͤhmt war, und ihr geiſtiges Auge
von dem Gedanken des Opfers wie von einem Meduſenantlitz
gefeſſelt wurde.

Erſt zu Ende Octobers trat ein ſcheinbarer Nachlaß ihrer
Angſt ein, indem ſie aͤußerte, daß ein ſolches Opfer nicht Gott
wohlgefaͤllig ſein koͤnne, wenn ſie auch noch gelegentlich Stim¬
men hoͤrte, welche daſſelbe von ihr forderten. Ja es erwachte
ſelbſt eine ſo lebhafte Sehnſucht nach den Ihrigen, daß dieſelbe
ſich in neuen Stimmen reflectirte, welche ihr zuriefen, daß ſie
nach Hauſe zuruͤckkehren ſolle. Indeß dieſe ſcheinbare Beſſe¬
rung war nur von kurzer Dauer, denn am Abend des 8. No¬
vember wurde ſie ploͤtzlich wieder ſehr unruhig, ſprang vom
Stuhl auf, weil ſie vom Teufel verfolgt zu ſein glaubte,
welcher ihr zuerſt als ein ſchwarzer Schatten an der im Zim¬
mer haͤngenden Lampe erſchienen, und hierauf durch das Zim¬
mer uͤber dem ihrigen gelaufen ſei. Sie umklammerte feſt jene
Lampe, indem ſie behauptete, daß nur dann der Teufel keine
Macht uͤber ſie habe, wenn ſie jene feſthalte, und konnte nur
mit Muͤhe von derſelben entfernt werden. Ihre hierdurch ver¬
anlaßte Angſt dauerte lange fort, und hatte den Ausbruch eines
reichlichen Schweißes auf dem Geſicht zur Folge, bis ſie ſich
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[135/0143] halten zu haben glaubte. Fruͤher hatte noch ihr inniges Mut¬ tergefuͤhl ſich in Ausbruͤchen der Verzweiflung dagegen geſtraͤubt; aber im graͤßlichen Seelenſchmerze verſtummte zuletzt auch jene maͤchtige Stimme der Natur, ſo daß ſie in dumpfer Betaͤu¬ bung ſich ſagte, es ſolle ſo ſein, ſie muͤſſe es thun, wobei ihr in dunkler Erinnerung das Bild des den Iſaak opfernden Abra¬ ham vorſchwebte. Ueberhaupt kam ihr die Welt wie veroͤdet und ausgeſtorben vor, als wenn ſie nach dem Verluſt aller ihrer Angehoͤrigen allein in derſelben zuruͤckgeblieben ſei, und ſie konnte noch nach ihrer Heilung nicht Worte finden, die furchtbaren Quaalen zu ſchildern, in welchen ſie damals zu Boden gedruͤckt war. Hieraus erklaͤrt ſich auch die Erſtarrung ihres ganzen Weſens, ſo daß ihre urſpruͤnglich hoͤchſt beweg¬ liche Phantaſie, welche außerdem die herrſchenden Wahnvorſtel¬ lungen gewiß zu einer Menge von Dichtungen verarbeitet ha¬ ben wuͤrde, gleichſam gelaͤhmt war, und ihr geiſtiges Auge von dem Gedanken des Opfers wie von einem Meduſenantlitz gefeſſelt wurde. Erſt zu Ende Octobers trat ein ſcheinbarer Nachlaß ihrer Angſt ein, indem ſie aͤußerte, daß ein ſolches Opfer nicht Gott wohlgefaͤllig ſein koͤnne, wenn ſie auch noch gelegentlich Stim¬ men hoͤrte, welche daſſelbe von ihr forderten. Ja es erwachte ſelbſt eine ſo lebhafte Sehnſucht nach den Ihrigen, daß dieſelbe ſich in neuen Stimmen reflectirte, welche ihr zuriefen, daß ſie nach Hauſe zuruͤckkehren ſolle. Indeß dieſe ſcheinbare Beſſe¬ rung war nur von kurzer Dauer, denn am Abend des 8. No¬ vember wurde ſie ploͤtzlich wieder ſehr unruhig, ſprang vom Stuhl auf, weil ſie vom Teufel verfolgt zu ſein glaubte, welcher ihr zuerſt als ein ſchwarzer Schatten an der im Zim¬ mer haͤngenden Lampe erſchienen, und hierauf durch das Zim¬ mer uͤber dem ihrigen gelaufen ſei. Sie umklammerte feſt jene Lampe, indem ſie behauptete, daß nur dann der Teufel keine Macht uͤber ſie habe, wenn ſie jene feſthalte, und konnte nur mit Muͤhe von derſelben entfernt werden. Ihre hierdurch ver¬ anlaßte Angſt dauerte lange fort, und hatte den Ausbruch eines reichlichen Schweißes auf dem Geſicht zur Folge, bis ſie ſich endlich beruhigte, und ſelbſt anerkannte, daß ihre aufgeregte Phantaſie ihr einen Streich geſpielt, und unter Anderem auch

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/143>, abgerufen am 02.05.2024.