Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

gänzlich raubten. Ihre Geistesstörung trat also Anfangs ganz
unter der Form eines Fieberdeliriums auf, und zeigte daher
auch den wechselnden, unbestimmten Charakter desselben,
indem die verschiedenartigsten Vorstellungen, von denen ihr
noch einzelne in der Erinnerung geblieben sind, in ihrem Kopfe
sich durchkreuzten. Insbesondere kam es ihr vor, als ob man¬
nigfaltige Gestalten vor ihren Augen vorbeirauschten; dabei hörte
sie viele Stimmen durch einander, welche sie bei Namen riefen,
und die durch den Wirbel dieser Bilder veranlaßte Unruhe
brachte in ihr die Vorstellung hervor, als ob sie verfolgt werde.
Zu drei Malen erblickte sie ein Lichtmeer, in welchem geister¬
ähnliche Gestalten als auferstandene Seelen um einen hellstrah¬
lenden Mittelpunkt, den sie für Gott hielt, herumschwebten,
indem sie Lobgesänge auf ihn im Chor anstimmten, und ihre
Seeligkeit priesen, von welcher auch die L. erfüllt war, da sie
schon ins Paradies eingegangen zu sein, und die Ihrigen zu
erblicken glaubte. Andere Male sah sie eine Menge unbestimm¬
ter kreisender Gestalten, wobei sie glaubte, daß eine neue Welt
entstehe. Aber es fehlte auch nicht an bangen Gefühlen, welche
besonders eine Folge davon gewesen sein mögen, daß sie zur
Zeit des nachlassenden Fiebers ihrer Besinnung wieder theil¬
haftig geworden, sich für tödtlich krank hielt, deshalb mit ihrem
Manne Verabredungen über die nach ihrem Tode vorzuneh¬
menden Einrichtungen traf, und lebhaften Schmerz darüber
empfand, daß sie ihr geliebtes Kind und ihren hülflosen Va¬
ter zurücklassen müsse, wenn auch der Tod selbst ihr keinen
Schreck einflößte, vielmehr die Hoffnung auf nahe Seeligkeit,
welche sie schon empfunden zu haben glaubte, ihr eine weh¬
müthige Freude einflößte.

Bei dem Mangel an genauer Beobachtung zu jener Zeit
läßt sich die Uebergangsepoche des Fieberdeliriums in wirk¬
lichen Wahnsinn nicht mehr näher bestimmen, denn bei ihrer
am 3. October erfolgten Aufnahme in die Irrenabtheilung war
bereits jede Spur von Fieber verschwunden, und die Erschei¬
nung einer allgemeinen Nervenaufregung in Folge ihres hefti¬
gen Gemüthsleidens abgerechnet, jedes anderweitige Krankheits¬
symptom gewichen, auch die Milchabsonderung und der Lochial¬
fluß hatten gänzlich aufgehört. Die pathogenetische Bezeichnung

gaͤnzlich raubten. Ihre Geiſtesſtoͤrung trat alſo Anfangs ganz
unter der Form eines Fieberdeliriums auf, und zeigte daher
auch den wechſelnden, unbeſtimmten Charakter deſſelben,
indem die verſchiedenartigſten Vorſtellungen, von denen ihr
noch einzelne in der Erinnerung geblieben ſind, in ihrem Kopfe
ſich durchkreuzten. Insbeſondere kam es ihr vor, als ob man¬
nigfaltige Geſtalten vor ihren Augen vorbeirauſchten; dabei hoͤrte
ſie viele Stimmen durch einander, welche ſie bei Namen riefen,
und die durch den Wirbel dieſer Bilder veranlaßte Unruhe
brachte in ihr die Vorſtellung hervor, als ob ſie verfolgt werde.
Zu drei Malen erblickte ſie ein Lichtmeer, in welchem geiſter¬
aͤhnliche Geſtalten als auferſtandene Seelen um einen hellſtrah¬
lenden Mittelpunkt, den ſie fuͤr Gott hielt, herumſchwebten‚
indem ſie Lobgeſaͤnge auf ihn im Chor anſtimmten, und ihre
Seeligkeit prieſen, von welcher auch die L. erfuͤllt war, da ſie
ſchon ins Paradies eingegangen zu ſein, und die Ihrigen zu
erblicken glaubte. Andere Male ſah ſie eine Menge unbeſtimm¬
ter kreiſender Geſtalten, wobei ſie glaubte, daß eine neue Welt
entſtehe. Aber es fehlte auch nicht an bangen Gefuͤhlen, welche
beſonders eine Folge davon geweſen ſein moͤgen, daß ſie zur
Zeit des nachlaſſenden Fiebers ihrer Beſinnung wieder theil¬
haftig geworden, ſich fuͤr toͤdtlich krank hielt, deshalb mit ihrem
Manne Verabredungen uͤber die nach ihrem Tode vorzuneh¬
menden Einrichtungen traf, und lebhaften Schmerz daruͤber
empfand, daß ſie ihr geliebtes Kind und ihren huͤlfloſen Va¬
ter zuruͤcklaſſen muͤſſe, wenn auch der Tod ſelbſt ihr keinen
Schreck einfloͤßte, vielmehr die Hoffnung auf nahe Seeligkeit,
welche ſie ſchon empfunden zu haben glaubte, ihr eine weh¬
muͤthige Freude einfloͤßte.

Bei dem Mangel an genauer Beobachtung zu jener Zeit
laͤßt ſich die Uebergangsepoche des Fieberdeliriums in wirk¬
lichen Wahnſinn nicht mehr naͤher beſtimmen, denn bei ihrer
am 3. October erfolgten Aufnahme in die Irrenabtheilung war
bereits jede Spur von Fieber verſchwunden, und die Erſchei¬
nung einer allgemeinen Nervenaufregung in Folge ihres hefti¬
gen Gemuͤthsleidens abgerechnet, jedes anderweitige Krankheits¬
ſymptom gewichen, auch die Milchabſonderung und der Lochial¬
fluß hatten gaͤnzlich aufgehoͤrt. Die pathogenetiſche Bezeichnung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0140" n="132"/>
ga&#x0364;nzlich raubten. Ihre Gei&#x017F;tes&#x017F;to&#x0364;rung trat al&#x017F;o Anfangs ganz<lb/>
unter der Form eines Fieberdeliriums auf, und zeigte daher<lb/>
auch den wech&#x017F;elnden, unbe&#x017F;timmten Charakter de&#x017F;&#x017F;elben,<lb/>
indem die ver&#x017F;chiedenartig&#x017F;ten Vor&#x017F;tellungen, von denen ihr<lb/>
noch einzelne in der Erinnerung geblieben &#x017F;ind, in ihrem Kopfe<lb/>
&#x017F;ich durchkreuzten. Insbe&#x017F;ondere kam es ihr vor, als ob man¬<lb/>
nigfaltige Ge&#x017F;talten vor ihren Augen vorbeirau&#x017F;chten; dabei ho&#x0364;rte<lb/>
&#x017F;ie viele Stimmen durch einander, welche &#x017F;ie bei Namen riefen,<lb/>
und die durch den Wirbel die&#x017F;er Bilder veranlaßte Unruhe<lb/>
brachte in ihr die Vor&#x017F;tellung hervor, als ob &#x017F;ie verfolgt werde.<lb/>
Zu drei Malen erblickte &#x017F;ie ein Lichtmeer, in welchem gei&#x017F;ter¬<lb/>
a&#x0364;hnliche Ge&#x017F;talten als aufer&#x017F;tandene Seelen um einen hell&#x017F;trah¬<lb/>
lenden Mittelpunkt, den &#x017F;ie fu&#x0364;r Gott hielt, herum&#x017F;chwebten&#x201A;<lb/>
indem &#x017F;ie Lobge&#x017F;a&#x0364;nge auf ihn im Chor an&#x017F;timmten, und ihre<lb/>
Seeligkeit prie&#x017F;en, von welcher auch die L. erfu&#x0364;llt war, da &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;chon ins Paradies eingegangen zu &#x017F;ein, und die Ihrigen zu<lb/>
erblicken glaubte. Andere Male &#x017F;ah &#x017F;ie eine Menge unbe&#x017F;timm¬<lb/>
ter krei&#x017F;ender Ge&#x017F;talten, wobei &#x017F;ie glaubte, daß eine neue Welt<lb/>
ent&#x017F;tehe. Aber es fehlte auch nicht an bangen Gefu&#x0364;hlen, welche<lb/>
be&#x017F;onders eine Folge davon gewe&#x017F;en &#x017F;ein mo&#x0364;gen, daß &#x017F;ie zur<lb/>
Zeit des nachla&#x017F;&#x017F;enden Fiebers ihrer Be&#x017F;innung wieder theil¬<lb/>
haftig geworden, &#x017F;ich fu&#x0364;r to&#x0364;dtlich krank hielt, deshalb mit ihrem<lb/>
Manne Verabredungen u&#x0364;ber die nach ihrem Tode vorzuneh¬<lb/>
menden Einrichtungen traf, und lebhaften Schmerz daru&#x0364;ber<lb/>
empfand, daß &#x017F;ie ihr geliebtes Kind und ihren hu&#x0364;lflo&#x017F;en Va¬<lb/>
ter zuru&#x0364;ckla&#x017F;&#x017F;en mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, wenn auch der Tod &#x017F;elb&#x017F;t ihr keinen<lb/>
Schreck einflo&#x0364;ßte, vielmehr die Hoffnung auf nahe Seeligkeit,<lb/>
welche &#x017F;ie &#x017F;chon empfunden zu haben glaubte, ihr eine weh¬<lb/>
mu&#x0364;thige Freude einflo&#x0364;ßte.</p><lb/>
        <p>Bei dem Mangel an genauer Beobachtung zu jener Zeit<lb/>
la&#x0364;ßt &#x017F;ich die Uebergangsepoche des Fieberdeliriums in wirk¬<lb/>
lichen Wahn&#x017F;inn nicht mehr na&#x0364;her be&#x017F;timmen, denn bei ihrer<lb/>
am 3. October erfolgten Aufnahme in die Irrenabtheilung war<lb/>
bereits jede Spur von Fieber ver&#x017F;chwunden, und die Er&#x017F;chei¬<lb/>
nung einer allgemeinen Nervenaufregung in Folge ihres hefti¬<lb/>
gen Gemu&#x0364;thsleidens abgerechnet, jedes anderweitige Krankheits¬<lb/>
&#x017F;ymptom gewichen, auch die Milchab&#x017F;onderung und der Lochial¬<lb/>
fluß hatten ga&#x0364;nzlich aufgeho&#x0364;rt. Die pathogeneti&#x017F;che Bezeichnung<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0140] gaͤnzlich raubten. Ihre Geiſtesſtoͤrung trat alſo Anfangs ganz unter der Form eines Fieberdeliriums auf, und zeigte daher auch den wechſelnden, unbeſtimmten Charakter deſſelben, indem die verſchiedenartigſten Vorſtellungen, von denen ihr noch einzelne in der Erinnerung geblieben ſind, in ihrem Kopfe ſich durchkreuzten. Insbeſondere kam es ihr vor, als ob man¬ nigfaltige Geſtalten vor ihren Augen vorbeirauſchten; dabei hoͤrte ſie viele Stimmen durch einander, welche ſie bei Namen riefen, und die durch den Wirbel dieſer Bilder veranlaßte Unruhe brachte in ihr die Vorſtellung hervor, als ob ſie verfolgt werde. Zu drei Malen erblickte ſie ein Lichtmeer, in welchem geiſter¬ aͤhnliche Geſtalten als auferſtandene Seelen um einen hellſtrah¬ lenden Mittelpunkt, den ſie fuͤr Gott hielt, herumſchwebten‚ indem ſie Lobgeſaͤnge auf ihn im Chor anſtimmten, und ihre Seeligkeit prieſen, von welcher auch die L. erfuͤllt war, da ſie ſchon ins Paradies eingegangen zu ſein, und die Ihrigen zu erblicken glaubte. Andere Male ſah ſie eine Menge unbeſtimm¬ ter kreiſender Geſtalten, wobei ſie glaubte, daß eine neue Welt entſtehe. Aber es fehlte auch nicht an bangen Gefuͤhlen, welche beſonders eine Folge davon geweſen ſein moͤgen, daß ſie zur Zeit des nachlaſſenden Fiebers ihrer Beſinnung wieder theil¬ haftig geworden, ſich fuͤr toͤdtlich krank hielt, deshalb mit ihrem Manne Verabredungen uͤber die nach ihrem Tode vorzuneh¬ menden Einrichtungen traf, und lebhaften Schmerz daruͤber empfand, daß ſie ihr geliebtes Kind und ihren huͤlfloſen Va¬ ter zuruͤcklaſſen muͤſſe, wenn auch der Tod ſelbſt ihr keinen Schreck einfloͤßte, vielmehr die Hoffnung auf nahe Seeligkeit, welche ſie ſchon empfunden zu haben glaubte, ihr eine weh¬ muͤthige Freude einfloͤßte. Bei dem Mangel an genauer Beobachtung zu jener Zeit laͤßt ſich die Uebergangsepoche des Fieberdeliriums in wirk¬ lichen Wahnſinn nicht mehr naͤher beſtimmen, denn bei ihrer am 3. October erfolgten Aufnahme in die Irrenabtheilung war bereits jede Spur von Fieber verſchwunden, und die Erſchei¬ nung einer allgemeinen Nervenaufregung in Folge ihres hefti¬ gen Gemuͤthsleidens abgerechnet, jedes anderweitige Krankheits¬ ſymptom gewichen, auch die Milchabſonderung und der Lochial¬ fluß hatten gaͤnzlich aufgehoͤrt. Die pathogenetiſche Bezeichnung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/140
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/140>, abgerufen am 02.05.2024.