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Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin, 1826. S. 161-188.

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Grad der Cultur, und so mannigfache und feste gesellschaftliche Formen erreicht, als dies in Mexico und Peru der Fall war. Vermuthlich hätte man sich in beiden Reichen, so wie heute in China, den Gebrauch der Buchstabenschrift anzunehmen geweigert, wenn er sich freiwillig, und nicht auf dem nöthigenden Wege der Eroberung dargeboten hätte.

So wie ich versucht habe, bei den grammatischen Formen zu zeigen, daß auch bloße Analoga ihre Stelle vertreten können, ebenso ist es mit der Schrift. Wo die wahre, der Sprache allein angemessene, fehlt, können auch stellvertretende andere alle äußeren, und bis auf einen gewissen Grad auch die inneren Zwecke und Bedürfnisse befriedigen. Nur die eigenthümliche Wirkung jener wahren und angemessenen, so wie die eigenthümliche Wirkung der ächten grammatischen Form, kann nie und durch nichts ersetzt werden; sie liegt aber in der inneren Auffassung und der Behandlung der Sprache, in der Gestaltung des Gedanken, in der Individualität des Denk- und Empfindungsvermögens.

Wo jedoch solche stellvertretende Mittel (da dieser Ausdruck nunmehr verständlich seyn wird) einmal Wurzel gefaßt haben, wo der instinctartig in der Nation auf das Bessere gerichtete Sinn nicht ihr Emporkommen verhindert hat, da stumpfen sie diesen Sinn noch mehr ab, erhalten das Sprach- und Gedankensystem in der falschen, ihnen entsprechenden Richtung, oder geben ihm dieselbe, und sind nicht mehr zu verdrängen, oder ihre wirkliche Verdrängung übt nun die erwartete heilsame Wirkung viel schwächer und langsamer aus. Wo also die Buchstabenschrift von einem Volke mit freudiger Begierde ergriffen und angeeignet werden soll, da muß sie demselben früh, in seiner Jugendfrische, wenigstens zu einer Zeit dargeboten werden, wo dasselbe noch nicht auf künstlichem und mühevollem Wege eine andere Schriftgattung gebildet, und sich an dieselbe gewöhnt hat. Noch weit mehr wird dies der Fall seyn müssen, wenn die Buchstabenschrift aus innerem Bedürfniß, und geradezu ohne durch das Medium einer anderen hindurchzugehen, erfunden werden soll. Ob dies aber wirklich jemals geschehen seyn mag, oder so unwahrscheinlich ist, daß es nur als eine entfernte Möglichkeit angesehen werden darf? darauf behalte ich mir vor, bei einer anderen Gelegenheit zurückzukommen.


Grad der Cultur, und so mannigfache und feste gesellschaftliche Formen erreicht, als dies in Mexico und Peru der Fall war. Vermuthlich hätte man sich in beiden Reichen, so wie heute in China, den Gebrauch der Buchstabenschrift anzunehmen geweigert, wenn er sich freiwillig, und nicht auf dem nöthigenden Wege der Eroberung dargeboten hätte.

So wie ich versucht habe, bei den grammatischen Formen zu zeigen, daß auch bloße Analoga ihre Stelle vertreten können, ebenso ist es mit der Schrift. Wo die wahre, der Sprache allein angemessene, fehlt, können auch stellvertretende andere alle äußeren, und bis auf einen gewissen Grad auch die inneren Zwecke und Bedürfnisse befriedigen. Nur die eigenthümliche Wirkung jener wahren und angemessenen, so wie die eigenthümliche Wirkung der ächten grammatischen Form, kann nie und durch nichts ersetzt werden; sie liegt aber in der inneren Auffassung und der Behandlung der Sprache, in der Gestaltung des Gedanken, in der Individualität des Denk- und Empfindungsvermögens.

Wo jedoch solche stellvertretende Mittel (da dieser Ausdruck nunmehr verständlich seyn wird) einmal Wurzel gefaßt haben, wo der instinctartig in der Nation auf das Bessere gerichtete Sinn nicht ihr Emporkommen verhindert hat, da stumpfen sie diesen Sinn noch mehr ab, erhalten das Sprach- und Gedankensystem in der falschen, ihnen entsprechenden Richtung, oder geben ihm dieselbe, und sind nicht mehr zu verdrängen, oder ihre wirkliche Verdrängung übt nun die erwartete heilsame Wirkung viel schwächer und langsamer aus. Wo also die Buchstabenschrift von einem Volke mit freudiger Begierde ergriffen und angeeignet werden soll, da muß sie demselben früh, in seiner Jugendfrische, wenigstens zu einer Zeit dargeboten werden, wo dasselbe noch nicht auf künstlichem und mühevollem Wege eine andere Schriftgattung gebildet, und sich an dieselbe gewöhnt hat. Noch weit mehr wird dies der Fall seyn müssen, wenn die Buchstabenschrift aus innerem Bedürfniß, und geradezu ohne durch das Medium einer anderen hindurchzugehen, erfunden werden soll. Ob dies aber wirklich jemals geschehen seyn mag, oder so unwahrscheinlich ist, daß es nur als eine entfernte Möglichkeit angesehen werden darf? darauf behalte ich mir vor, bei einer anderen Gelegenheit zurückzukommen.


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Grad der Cultur, und so mannigfache und feste gesellschaftliche Formen erreicht, als dies in Mexico und Peru der Fall war. Vermuthlich hätte man sich in beiden Reichen, so wie heute in China, den Gebrauch der Buchstabenschrift anzunehmen geweigert, wenn er sich freiwillig, und nicht auf dem nöthigenden Wege der Eroberung dargeboten hätte.</p>
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[188/0028] Grad der Cultur, und so mannigfache und feste gesellschaftliche Formen erreicht, als dies in Mexico und Peru der Fall war. Vermuthlich hätte man sich in beiden Reichen, so wie heute in China, den Gebrauch der Buchstabenschrift anzunehmen geweigert, wenn er sich freiwillig, und nicht auf dem nöthigenden Wege der Eroberung dargeboten hätte. So wie ich versucht habe, bei den grammatischen Formen zu zeigen, daß auch bloße Analoga ihre Stelle vertreten können, ebenso ist es mit der Schrift. Wo die wahre, der Sprache allein angemessene, fehlt, können auch stellvertretende andere alle äußeren, und bis auf einen gewissen Grad auch die inneren Zwecke und Bedürfnisse befriedigen. Nur die eigenthümliche Wirkung jener wahren und angemessenen, so wie die eigenthümliche Wirkung der ächten grammatischen Form, kann nie und durch nichts ersetzt werden; sie liegt aber in der inneren Auffassung und der Behandlung der Sprache, in der Gestaltung des Gedanken, in der Individualität des Denk- und Empfindungsvermögens. Wo jedoch solche stellvertretende Mittel (da dieser Ausdruck nunmehr verständlich seyn wird) einmal Wurzel gefaßt haben, wo der instinctartig in der Nation auf das Bessere gerichtete Sinn nicht ihr Emporkommen verhindert hat, da stumpfen sie diesen Sinn noch mehr ab, erhalten das Sprach- und Gedankensystem in der falschen, ihnen entsprechenden Richtung, oder geben ihm dieselbe, und sind nicht mehr zu verdrängen, oder ihre wirkliche Verdrängung übt nun die erwartete heilsame Wirkung viel schwächer und langsamer aus. Wo also die Buchstabenschrift von einem Volke mit freudiger Begierde ergriffen und angeeignet werden soll, da muß sie demselben früh, in seiner Jugendfrische, wenigstens zu einer Zeit dargeboten werden, wo dasselbe noch nicht auf künstlichem und mühevollem Wege eine andere Schriftgattung gebildet, und sich an dieselbe gewöhnt hat. Noch weit mehr wird dies der Fall seyn müssen, wenn die Buchstabenschrift aus innerem Bedürfniß, und geradezu ohne durch das Medium einer anderen hindurchzugehen, erfunden werden soll. Ob dies aber wirklich jemals geschehen seyn mag, oder so unwahrscheinlich ist, daß es nur als eine entfernte Möglichkeit angesehen werden darf? darauf behalte ich mir vor, bei einer anderen Gelegenheit zurückzukommen.

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin, 1826. S. 161-188, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_sprachbau_1826/28>, abgerufen am 29.03.2024.