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Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin, 1826. S. 161-188.

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allein auf einer Stufe, die sich jetzt nicht mehr bestimmen läßt, scheint auch die Mexicanische Hieroglyphenschrift stehen geblieben zu seyn. Ob man z. B. Gedichte, von welchen es berühmte und namentlich angeführte gab, hieroglyphisch aufbewahren konnte? da die Poesie einmal unwiderruflich an bestimmte Worte in bestimmter Folge durch ihre Form gebunden ist, läßt sich jetzt nicht mehr entscheiden. War es nicht möglich, so befanden sich die Peruaner hierin in einer vortheilhafteren Lage. Denn eine Schrift, oder ein Analogon derselben, das nicht die Gegenstände selbst darstellt, sondern mehr innerliches Gedächtnißmittel ist, kann sich, wenn auch weniger fähig, auf ein anderes Volk, oder eine entfernte Zeit überzugehen, der Sprache ganz genau anschließen. Indeß darf man freilich nicht vergessen, daß ein Volk, welches sich einer solchen Schrift in solchem Sinne bedient, nicht sowohl wirklich eine Schrift besitzt, als vielmehr nur den Zustand, ohne Schrift auf das bloße Gedächtniß verwiesen zu seyn, durch künstliche Mittel in hohem Grade vervollkommnet hat. Das aber ist gerade der wichtigste Unterscheidungspunkt in dem Zustande mit und ohne Schrift, daß in dem ersteren das Gedächtniß nicht mehr die Hauptrolle in den geistigen Bestrebungen spielt.

Welches indeß auch die Vorzüge und Nachtheile jedes dieser beiden Schriftsysteme seyn mochten, so genügten sie den Nationen, welche sie sich angeeignet hatten; sie hatten sich einmal an dieselben gewöhnt, und jedes, vorzüglich aber das Peruanische, war sogar in die Verfassung des Staats, und die Art seiner Verwaltung verwebt. Es ist daher nicht abzusehen, wie eins dieser Völker von selbst auf Buchstabenschrift gekommen seyn würde; die Möglichkeit läßt sich allerdings nicht bestreiten. Das Beispiel Aegyptens zeigt die nahe Verwandtschaft von Laut-Hieroglyphen und Buchstaben und aus der graphischen Darstellung der Verschlingungen der Knotenschnüre konnten Zeichen entstehen, die in der Gestalt den Chinesischen glichen, sich aber phonetisch behandeln ließen. Es hätte aber dazu eine ähnliche geistige Anlage gehört, als die Aegyptier schon so frühe verriethen, daß auch die älteste Ueberlieferung sie uns nicht anders darstellt, und es ist allemal ein ungünstiges Zeichen für die künftige Entwicklung einer Nation, wenn sie, ohne daß jene Anlage zugleich ans Licht tritt, schon einen so bedeutenden

allein auf einer Stufe, die sich jetzt nicht mehr bestimmen läßt, scheint auch die Mexicanische Hieroglyphenschrift stehen geblieben zu seyn. Ob man z. B. Gedichte, von welchen es berühmte und namentlich angeführte gab, hieroglyphisch aufbewahren konnte? da die Poesie einmal unwiderruflich an bestimmte Worte in bestimmter Folge durch ihre Form gebunden ist, läßt sich jetzt nicht mehr entscheiden. War es nicht möglich, so befanden sich die Peruaner hierin in einer vortheilhafteren Lage. Denn eine Schrift, oder ein Analogon derselben, das nicht die Gegenstände selbst darstellt, sondern mehr innerliches Gedächtnißmittel ist, kann sich, wenn auch weniger fähig, auf ein anderes Volk, oder eine entfernte Zeit überzugehen, der Sprache ganz genau anschließen. Indeß darf man freilich nicht vergessen, daß ein Volk, welches sich einer solchen Schrift in solchem Sinne bedient, nicht sowohl wirklich eine Schrift besitzt, als vielmehr nur den Zustand, ohne Schrift auf das bloße Gedächtniß verwiesen zu seyn, durch künstliche Mittel in hohem Grade vervollkommnet hat. Das aber ist gerade der wichtigste Unterscheidungspunkt in dem Zustande mit und ohne Schrift, daß in dem ersteren das Gedächtniß nicht mehr die Hauptrolle in den geistigen Bestrebungen spielt.

Welches indeß auch die Vorzüge und Nachtheile jedes dieser beiden Schriftsysteme seyn mochten, so genügten sie den Nationen, welche sie sich angeeignet hatten; sie hatten sich einmal an dieselben gewöhnt, und jedes, vorzüglich aber das Peruanische, war sogar in die Verfassung des Staats, und die Art seiner Verwaltung verwebt. Es ist daher nicht abzusehen, wie eins dieser Völker von selbst auf Buchstabenschrift gekommen seyn würde; die Möglichkeit läßt sich allerdings nicht bestreiten. Das Beispiel Aegyptens zeigt die nahe Verwandtschaft von Laut-Hieroglyphen und Buchstaben und aus der graphischen Darstellung der Verschlingungen der Knotenschnüre konnten Zeichen entstehen, die in der Gestalt den Chinesischen glichen, sich aber phonetisch behandeln ließen. Es hätte aber dazu eine ähnliche geistige Anlage gehört, als die Aegyptier schon so frühe verriethen, daß auch die älteste Ueberlieferung sie uns nicht anders darstellt, und es ist allemal ein ungünstiges Zeichen für die künftige Entwicklung einer Nation, wenn sie, ohne daß jene Anlage zugleich ans Licht tritt, schon einen so bedeutenden

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allein auf einer Stufe, die sich jetzt nicht mehr bestimmen läßt, scheint auch die Mexicanische Hieroglyphenschrift stehen geblieben zu seyn. Ob man z. B. Gedichte, von welchen es berühmte und namentlich angeführte gab, hieroglyphisch aufbewahren konnte? da die Poesie einmal unwiderruflich an bestimmte Worte in bestimmter Folge durch ihre Form gebunden ist, läßt sich jetzt nicht mehr entscheiden. War es nicht möglich, so befanden sich die Peruaner hierin in einer vortheilhafteren Lage. Denn eine Schrift, oder ein Analogon derselben, das nicht die Gegenstände selbst darstellt, sondern mehr innerliches Gedächtnißmittel ist, kann sich, wenn auch weniger fähig, auf ein anderes Volk, oder eine entfernte Zeit überzugehen, der Sprache ganz genau anschließen. Indeß darf man freilich nicht vergessen, daß ein Volk, welches sich einer solchen Schrift in solchem Sinne bedient, nicht sowohl wirklich eine Schrift besitzt, als vielmehr nur den Zustand, ohne Schrift auf das bloße Gedächtniß verwiesen zu seyn, durch künstliche Mittel in hohem Grade vervollkommnet hat. Das aber ist gerade der wichtigste Unterscheidungspunkt in dem Zustande mit und ohne Schrift, daß in dem ersteren das Gedächtniß nicht mehr die Hauptrolle in den geistigen Bestrebungen spielt.</p>
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[187/0027] allein auf einer Stufe, die sich jetzt nicht mehr bestimmen läßt, scheint auch die Mexicanische Hieroglyphenschrift stehen geblieben zu seyn. Ob man z. B. Gedichte, von welchen es berühmte und namentlich angeführte gab, hieroglyphisch aufbewahren konnte? da die Poesie einmal unwiderruflich an bestimmte Worte in bestimmter Folge durch ihre Form gebunden ist, läßt sich jetzt nicht mehr entscheiden. War es nicht möglich, so befanden sich die Peruaner hierin in einer vortheilhafteren Lage. Denn eine Schrift, oder ein Analogon derselben, das nicht die Gegenstände selbst darstellt, sondern mehr innerliches Gedächtnißmittel ist, kann sich, wenn auch weniger fähig, auf ein anderes Volk, oder eine entfernte Zeit überzugehen, der Sprache ganz genau anschließen. Indeß darf man freilich nicht vergessen, daß ein Volk, welches sich einer solchen Schrift in solchem Sinne bedient, nicht sowohl wirklich eine Schrift besitzt, als vielmehr nur den Zustand, ohne Schrift auf das bloße Gedächtniß verwiesen zu seyn, durch künstliche Mittel in hohem Grade vervollkommnet hat. Das aber ist gerade der wichtigste Unterscheidungspunkt in dem Zustande mit und ohne Schrift, daß in dem ersteren das Gedächtniß nicht mehr die Hauptrolle in den geistigen Bestrebungen spielt. Welches indeß auch die Vorzüge und Nachtheile jedes dieser beiden Schriftsysteme seyn mochten, so genügten sie den Nationen, welche sie sich angeeignet hatten; sie hatten sich einmal an dieselben gewöhnt, und jedes, vorzüglich aber das Peruanische, war sogar in die Verfassung des Staats, und die Art seiner Verwaltung verwebt. Es ist daher nicht abzusehen, wie eins dieser Völker von selbst auf Buchstabenschrift gekommen seyn würde; die Möglichkeit läßt sich allerdings nicht bestreiten. Das Beispiel Aegyptens zeigt die nahe Verwandtschaft von Laut-Hieroglyphen und Buchstaben und aus der graphischen Darstellung der Verschlingungen der Knotenschnüre konnten Zeichen entstehen, die in der Gestalt den Chinesischen glichen, sich aber phonetisch behandeln ließen. Es hätte aber dazu eine ähnliche geistige Anlage gehört, als die Aegyptier schon so frühe verriethen, daß auch die älteste Ueberlieferung sie uns nicht anders darstellt, und es ist allemal ein ungünstiges Zeichen für die künftige Entwicklung einer Nation, wenn sie, ohne daß jene Anlage zugleich ans Licht tritt, schon einen so bedeutenden

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau. In: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin, 1826. S. 161-188, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_sprachbau_1826/27>, abgerufen am 19.04.2024.