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Humboldt, Alexander von: Ueber die Anwendung des Galvanischen Reizmittels auf die praktische Heilkunde. Ein Schreiben des Hrn. Obergerbraths von Humboldt an den Herausgeber. In: Journal für die Chirurgie, Geburtshülfe und gerichtliche Arzneykunde, Bd. 1 (1797), S. 447-471.

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den Effect des Metallreitzes eben so sehr, als sie es auf
Fisch- oder Froschnerven thun. Eine vernichtete Kraft
wird freylich nicht wieder erzeugt. Aber, was wissen wir
von den Kräften selbst und ihrem Verschwinden? Dür-
fen wir je sagen, daß hier keine Erregbarkeit mehr sey?
Nein! die Erfahrung lehrt blos, der Stimulus x hat in
dem Organ y in dem Momente z keine uns bemerkbare
Veränderung hervorgebracht. Was wir mehr aussagen,
ist nicht mehr in der Beobachtung selbst gegründet. Das
Leben ist kein Stoff, der zutritt oder abgeschieden wird;
die vitalen Erscheinungen sind das Resultat einer so ge-
formten, so gemischten organischen Materie. Eine tem-
poräre Veränderung in der Mischung muß daher auch
andere Erscheinungen veranlassen, und was wir Zerstö-
rung der Erregbarkeit von eintretender Fäulniß nennen,
ist vielleicht nur Daseyn eines minderen Grades der Er-
regbarkeit.

Man mache mir nicht den Vorwurf, daß ich das
vorgeschlagene Prüfungsmittel zu streng beurtheile; daß
ich Fälle anführe, die zu den seltensten Ausnahmen gehö-
ren. Es kommt hier darauf an, nicht die wahr-
scheinliche Richtigkeit
, sondern die Untrüg-
lichkeit
eines Kennzeichens zu untersuchen. Bey einer
Streitfrage, die ein so eigentliches allgemein menschli-
ches Jnteresse mit sich führt, kann man nie zu gründ-
lich verfahren. Würde der Glaube an die Untrüglich-
keit dieses Mittels allgemein, so würde der jüdische Ge-

den Effect des Metallreitzes eben ſo ſehr, als ſie es auf
Fiſch- oder Froſchnerven thun. Eine vernichtete Kraft
wird freylich nicht wieder erzeugt. Aber, was wiſſen wir
von den Kraͤften ſelbſt und ihrem Verſchwinden? Duͤr-
fen wir je ſagen, daß hier keine Erregbarkeit mehr ſey?
Nein! die Erfahrung lehrt blos, der Stimulus x hat in
dem Organ y in dem Momente z keine uns bemerkbare
Veraͤnderung hervorgebracht. Was wir mehr ausſagen,
iſt nicht mehr in der Beobachtung ſelbſt gegruͤndet. Das
Leben iſt kein Stoff, der zutritt oder abgeſchieden wird;
die vitalen Erſcheinungen ſind das Reſultat einer ſo ge-
formten, ſo gemiſchten organiſchen Materie. Eine tem-
poraͤre Veraͤnderung in der Miſchung muß daher auch
andere Erſcheinungen veranlaſſen, und was wir Zerſtoͤ-
rung der Erregbarkeit von eintretender Faͤulniß nennen,
iſt vielleicht nur Daſeyn eines minderen Grades der Er-
regbarkeit.

Man mache mir nicht den Vorwurf, daß ich das
vorgeſchlagene Pruͤfungsmittel zu ſtreng beurtheile; daß
ich Faͤlle anfuͤhre, die zu den ſeltenſten Ausnahmen gehoͤ-
ren. Es kommt hier darauf an, nicht die wahr-
ſcheinliche Richtigkeit
, ſondern die Untruͤg-
lichkeit
eines Kennzeichens zu unterſuchen. Bey einer
Streitfrage, die ein ſo eigentliches allgemein menſchli-
ches Jntereſſe mit ſich fuͤhrt, kann man nie zu gruͤnd-
lich verfahren. Wuͤrde der Glaube an die Untruͤglich-
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[458/0013] den Effect des Metallreitzes eben ſo ſehr, als ſie es auf Fiſch- oder Froſchnerven thun. Eine vernichtete Kraft wird freylich nicht wieder erzeugt. Aber, was wiſſen wir von den Kraͤften ſelbſt und ihrem Verſchwinden? Duͤr- fen wir je ſagen, daß hier keine Erregbarkeit mehr ſey? Nein! die Erfahrung lehrt blos, der Stimulus x hat in dem Organ y in dem Momente z keine uns bemerkbare Veraͤnderung hervorgebracht. Was wir mehr ausſagen, iſt nicht mehr in der Beobachtung ſelbſt gegruͤndet. Das Leben iſt kein Stoff, der zutritt oder abgeſchieden wird; die vitalen Erſcheinungen ſind das Reſultat einer ſo ge- formten, ſo gemiſchten organiſchen Materie. Eine tem- poraͤre Veraͤnderung in der Miſchung muß daher auch andere Erſcheinungen veranlaſſen, und was wir Zerſtoͤ- rung der Erregbarkeit von eintretender Faͤulniß nennen, iſt vielleicht nur Daſeyn eines minderen Grades der Er- regbarkeit. Man mache mir nicht den Vorwurf, daß ich das vorgeſchlagene Pruͤfungsmittel zu ſtreng beurtheile; daß ich Faͤlle anfuͤhre, die zu den ſeltenſten Ausnahmen gehoͤ- ren. Es kommt hier darauf an, nicht die wahr- ſcheinliche Richtigkeit, ſondern die Untruͤg- lichkeit eines Kennzeichens zu unterſuchen. Bey einer Streitfrage, die ein ſo eigentliches allgemein menſchli- ches Jntereſſe mit ſich fuͤhrt, kann man nie zu gruͤnd- lich verfahren. Wuͤrde der Glaube an die Untruͤglich- keit dieſes Mittels allgemein, ſo wuͤrde der juͤdiſche Ge-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Ueber die Anwendung des Galvanischen Reizmittels auf die praktische Heilkunde. Ein Schreiben des Hrn. Obergerbraths von Humboldt an den Herausgeber. In: Journal für die Chirurgie, Geburtshülfe und gerichtliche Arzneykunde, Bd. 1 (1797), S. 447-471, hier S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_reizmittel_1797/13>, abgerufen am 27.04.2024.