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Humboldt, Alexander von: Ueber die Anwendung des Galvanischen Reizmittels auf die praktische Heilkunde. Ein Schreiben des Hrn. Obergerbraths von Humboldt an den Herausgeber. In: Journal für die Chirurgie, Geburtshülfe und gerichtliche Arzneykunde, Bd. 1 (1797), S. 447-471.

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nen Lebenskraft im thierischen Körper ist ein physisches
Unding." -- Lasset uns nicht a priori über Dinge abspre-
chen, die wir nur auf dem sicheren Wege des Experi-
ments und der Beobachtung aufklären können. Jch ha-
be, bey meinen Versuchen über die Wirkung chemischer
Stoffe auf die sensible und irritable Fiber, zahllose Mah-
le den schwachen Reitz des Zinks und Bleys in demsel-
ben Organe wirksam gefunden, wo wenige Minuten
vorher der stärkere Reitz des Zinks und Goldes unwirk-
sam war. Jch habe in einem Schenkel die Erregbarkeit
nicht einmahl, sondern drey bis viermahl, verschwinden
und wieder erscheinen sehen, je nachdem ich die thieri-
sche Materie abwechselnd mit Opium, Arsenikkalch, Al-
cohol, Moschus, Säuren oder Alcalien behandelte. Läßt
die Analogie nicht vermuthen, daß ähnliche Verrichtun-
gen in dem sich selbst überlassenen Körper vorgehen kön-
nen? Bemerken wir nicht zuweilen im Leben (z. B. bey
blinden Greisen) daß der gelähmte Sehenerv von selbst
wieder für den Lichtreitz empfänglich wird? daß in ei-
nem Gliede, das vom Blitze gelähmt ist, Bewegungs-
f[ä]higkeit zurückkehrt? Die Besorgniß, daß das Galvani-
sche Experiment den wahren Tod verkündigen kann, wo
nur temporäre Lähmung ist, scheint demnach nicht chi-
märisch zu seyn. Auch glaube man nicht, daß ich
nur bey kaltblütigen Thieren die Wirkung chemischer
Stoffe auf die Erhöhung der Reitzempfänglichkeit be-
merkt habe. Die alkalischen Solutionen, die oxygenir-
te Kochsalzsäure, vermehrten in meinen eigenen Nerven

nen Lebenskraft im thieriſchen Koͤrper iſt ein phyſiſches
Unding.“ — Laſſet uns nicht a priori uͤber Dinge abſpre-
chen, die wir nur auf dem ſicheren Wege des Experi-
ments und der Beobachtung aufklaͤren koͤnnen. Jch ha-
be, bey meinen Verſuchen uͤber die Wirkung chemiſcher
Stoffe auf die ſenſible und irritable Fiber, zahlloſe Mah-
le den ſchwachen Reitz des Zinks und Bleys in demſel-
ben Organe wirkſam gefunden, wo wenige Minuten
vorher der ſtaͤrkere Reitz des Zinks und Goldes unwirk-
ſam war. Jch habe in einem Schenkel die Erregbarkeit
nicht einmahl, ſondern drey bis viermahl, verſchwinden
und wieder erſcheinen ſehen, je nachdem ich die thieri-
ſche Materie abwechſelnd mit Opium, Arſenikkalch, Al-
cohol, Moſchus, Saͤuren oder Alcalien behandelte. Laͤßt
die Analogie nicht vermuthen, daß aͤhnliche Verrichtun-
gen in dem ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Koͤrper vorgehen koͤn-
nen? Bemerken wir nicht zuweilen im Leben (z. B. bey
blinden Greiſen) daß der gelaͤhmte Sehenerv von ſelbſt
wieder fuͤr den Lichtreitz empfaͤnglich wird? daß in ei-
nem Gliede, das vom Blitze gelaͤhmt iſt, Bewegungs-
f[aͤ]higkeit zuruͤckkehrt? Die Beſorgniß, daß das Galvani-
ſche Experiment den wahren Tod verkuͤndigen kann, wo
nur temporaͤre Laͤhmung iſt, ſcheint demnach nicht chi-
maͤriſch zu ſeyn. Auch glaube man nicht, daß ich
nur bey kaltbluͤtigen Thieren die Wirkung chemiſcher
Stoffe auf die Erhoͤhung der Reitzempfaͤnglichkeit be-
merkt habe. Die alkaliſchen Solutionen, die oxygenir-
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[457/0012] nen Lebenskraft im thieriſchen Koͤrper iſt ein phyſiſches Unding.“ — Laſſet uns nicht a priori uͤber Dinge abſpre- chen, die wir nur auf dem ſicheren Wege des Experi- ments und der Beobachtung aufklaͤren koͤnnen. Jch ha- be, bey meinen Verſuchen uͤber die Wirkung chemiſcher Stoffe auf die ſenſible und irritable Fiber, zahlloſe Mah- le den ſchwachen Reitz des Zinks und Bleys in demſel- ben Organe wirkſam gefunden, wo wenige Minuten vorher der ſtaͤrkere Reitz des Zinks und Goldes unwirk- ſam war. Jch habe in einem Schenkel die Erregbarkeit nicht einmahl, ſondern drey bis viermahl, verſchwinden und wieder erſcheinen ſehen, je nachdem ich die thieri- ſche Materie abwechſelnd mit Opium, Arſenikkalch, Al- cohol, Moſchus, Saͤuren oder Alcalien behandelte. Laͤßt die Analogie nicht vermuthen, daß aͤhnliche Verrichtun- gen in dem ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Koͤrper vorgehen koͤn- nen? Bemerken wir nicht zuweilen im Leben (z. B. bey blinden Greiſen) daß der gelaͤhmte Sehenerv von ſelbſt wieder fuͤr den Lichtreitz empfaͤnglich wird? daß in ei- nem Gliede, das vom Blitze gelaͤhmt iſt, Bewegungs- faͤhigkeit zuruͤckkehrt? Die Beſorgniß, daß das Galvani- ſche Experiment den wahren Tod verkuͤndigen kann, wo nur temporaͤre Laͤhmung iſt, ſcheint demnach nicht chi- maͤriſch zu ſeyn. Auch glaube man nicht, daß ich nur bey kaltbluͤtigen Thieren die Wirkung chemiſcher Stoffe auf die Erhoͤhung der Reitzempfaͤnglichkeit be- merkt habe. Die alkaliſchen Solutionen, die oxygenir- te Kochſalzſaͤure, vermehrten in meinen eigenen Nerven

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Ueber die Anwendung des Galvanischen Reizmittels auf die praktische Heilkunde. Ein Schreiben des Hrn. Obergerbraths von Humboldt an den Herausgeber. In: Journal für die Chirurgie, Geburtshülfe und gerichtliche Arzneykunde, Bd. 1 (1797), S. 447-471, hier S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_reizmittel_1797/12>, abgerufen am 28.04.2024.