Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie nach Jahrtausenden über den Wasserspiegel hervorragend, absterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden: so sind die organischen Kräfte sogleich bereit, den todten Fels zu beleben. Was den Saamen so plözlich herbeiführt: ob wandernde Vögel, oder Winde, oder die Wogen des Meeres; ist bei der grossen Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber auf dem nakten Steine, sobald ihn zuerst die Luft berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein Gewebe sammtartiger Fasern, die dem unbewafneten Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind durch hervorragende Linien bald einfach bald doppelt begränzt; andere sind in Furchen durchschnitten und in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke fliessen in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich neue zirkelrunde Flechten von blendender Weisse. So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe auf das andere; und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht bestimmte Stufen der sittlichen Kultur durchlaufen muss, so ist die allmählige Verbreitung der Pflanzen an bestimmte physische Geseze gebunden. Wo jezt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben, da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein. Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und Sträucher, füllen die Kluft der langen aber ungemessenen
Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie nach Jahrtausenden über den Wasserspiegel hervorragend, absterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden: so sind die organischen Kräfte sogleich bereit, den todten Fels zu beleben. Was den Saamen so plözlich herbeiführt: ob wandernde Vögel, oder Winde, oder die Wogen des Meeres; ist bei der groſsen Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber auf dem nakten Steine, sobald ihn zuerst die Luft berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein Gewebe sammtartiger Fasern, die dem unbewafneten Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind durch hervorragende Linien bald einfach bald doppelt begränzt; andere sind in Furchen durchschnitten und in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke flieſsen in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiſse. So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe auf das andere; und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht bestimmte Stufen der sittlichen Kultur durchlaufen muſs, so ist die allmählige Verbreitung der Pflanzen an bestimmte physische Geseze gebunden. Wo jezt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben, da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein. Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und Sträucher, füllen die Kluft der langen aber ungemessenen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0007"n="7"/>
Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie<lb/>
nach Jahrtausenden über den Wasserspiegel hervorragend,<lb/>
absterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden:<lb/>
so sind die organischen Kräfte sogleich bereit,<lb/>
den todten Fels zu beleben. Was den Saamen so<lb/>
plözlich herbeiführt: ob wandernde Vögel, oder Winde,<lb/>
oder die Wogen des Meeres; ist bei der groſsen<lb/>
Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber<lb/>
auf dem nakten Steine, sobald ihn zuerst die Luft<lb/>
berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein<lb/>
Gewebe sammtartiger Fasern, die dem unbewafneten<lb/>
Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind<lb/>
durch hervorragende Linien bald einfach bald doppelt<lb/>
begränzt; andere sind in Furchen durchschnitten und<lb/>
in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt<lb/>
sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende<lb/>
Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien<lb/>
verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges<lb/>
Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke flieſsen<lb/>
in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich<lb/>
neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiſse.<lb/>
So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe<lb/>
auf das andere; und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht<lb/>
bestimmte Stufen der sittlichen Kultur<lb/>
durchlaufen muſs, so ist die allmählige Verbreitung<lb/>
der Pflanzen an bestimmte physische Geseze gebunden.<lb/>
Wo jezt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben,<lb/>
da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein.<lb/>
Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und<lb/>
Sträucher, füllen die Kluft der langen aber ungemessenen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[7/0007]
Nereiden ihre zelligen Wohnungen, bis sie
nach Jahrtausenden über den Wasserspiegel hervorragend,
absterben, und ein flaches Corallen-Eiland bilden:
so sind die organischen Kräfte sogleich bereit,
den todten Fels zu beleben. Was den Saamen so
plözlich herbeiführt: ob wandernde Vögel, oder Winde,
oder die Wogen des Meeres; ist bei der groſsen
Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber
auf dem nakten Steine, sobald ihn zuerst die Luft
berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein
Gewebe sammtartiger Fasern, die dem unbewafneten
Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind
durch hervorragende Linien bald einfach bald doppelt
begränzt; andere sind in Furchen durchschnitten und
in Fächer getheilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt
sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende
Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien
verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges
Schwarz. Die Gränzen der alternden Decke flieſsen
in einander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich
neue zirkelrunde Flechten von blendender Weiſse.
So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe
auf das andere; und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht
bestimmte Stufen der sittlichen Kultur
durchlaufen muſs, so ist die allmählige Verbreitung
der Pflanzen an bestimmte physische Geseze gebunden.
Wo jezt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben,
da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein.
Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und
Sträucher, füllen die Kluft der langen aber ungemessenen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML.
(2012-11-06T13:54:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
SUB Göttingen: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-11-06T13:54:31Z)
Weitere Informationen:
Anmerkungen zur Transkription:
Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen.
Der Zeilenfall wurde beibehalten, die Silbentrennung aber wurde aufgehoben.
Humboldt, Alexander von: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen, 1806, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_physiognomik_1806/7>, abgerufen am 08.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.