Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.Von Ovidius hätten wir als Frucht seines langen Aufenthalts in den Ebenen von Tomi (in Unter-Mösien) eine dichterische Naturbeschreibung der Steppen erwarten können, deren keine aus dem Alterthum auf uns gekommen ist. Der Verbannte sah freilich nicht die Art von Steppen, welche im Sommer mit vier bis sechs Fuß hohen, saftreichen Kräutern dicht bedeckt sind und bei jedem Windeshauch das anmuthige Bild bewegter Blüthenwellen darbieten; der Verbannungsort des Ovidius war ein ödes, sumpfreiches Steppenland, und der gebrochene Geist des unmännlich Klagenden war mit Erinnerungen an die Genüsse der geselligen Welt, an die politischen Ereignisse in Rom, nicht mit der Anschauung der ihn umgebenden scythischen Einöde erfüllt. Als Ersatz hat uns der hochbegabte, jeder lebensfrischen Darstellung so mächtige Dichter neben den, freilich nur zu oft wiederholten, allgemeinen Schilderungen von Höhlen, Quellen und "stillen Mondnächten" eine überaus individualisirte, auch geognostisch wichtige Beschreibung des vulkanischen Ausbruchs bei Methone, zwischen Epidaurus und Trözen, gegeben. Es ist dieser Beschreibung schon an einem anderen Orte, in dem Naturgemälde30, gedacht. Ovidius zeigt uns, "wie durch der eingezwängten Dämpfe Kraft der Boden gleich einer luftgefüllten Blase, gleich dem Fell des zweigehörnten Bockes anschwillt und sich als ein Hügel erhebt". Am meisten ist zu bedauern, daß Tibullus keine große naturbeschreibende Composition von individuellem Charakter hat hinterlassen können. Unter den Dichtern des Augusteischen Zeitalters gehört er zu den wenigen, die, der alexandrinischen Gelehrsamkeit glücklicherweise fremd, der Von Ovidius hätten wir als Frucht seines langen Aufenthalts in den Ebenen von Tomi (in Unter-Mösien) eine dichterische Naturbeschreibung der Steppen erwarten können, deren keine aus dem Alterthum auf uns gekommen ist. Der Verbannte sah freilich nicht die Art von Steppen, welche im Sommer mit vier bis sechs Fuß hohen, saftreichen Kräutern dicht bedeckt sind und bei jedem Windeshauch das anmuthige Bild bewegter Blüthenwellen darbieten; der Verbannungsort des Ovidius war ein ödes, sumpfreiches Steppenland, und der gebrochene Geist des unmännlich Klagenden war mit Erinnerungen an die Genüsse der geselligen Welt, an die politischen Ereignisse in Rom, nicht mit der Anschauung der ihn umgebenden scythischen Einöde erfüllt. Als Ersatz hat uns der hochbegabte, jeder lebensfrischen Darstellung so mächtige Dichter neben den, freilich nur zu oft wiederholten, allgemeinen Schilderungen von Höhlen, Quellen und „stillen Mondnächten" eine überaus individualisirte, auch geognostisch wichtige Beschreibung des vulkanischen Ausbruchs bei Methone, zwischen Epidaurus und Trözen, gegeben. Es ist dieser Beschreibung schon an einem anderen Orte, in dem Naturgemälde30, gedacht. Ovidius zeigt uns, „wie durch der eingezwängten Dämpfe Kraft der Boden gleich einer luftgefüllten Blase, gleich dem Fell des zweigehörnten Bockes anschwillt und sich als ein Hügel erhebt". Am meisten ist zu bedauern, daß Tibullus keine große naturbeschreibende Composition von individuellem Charakter hat hinterlassen können. 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Als Ersatz hat uns der hochbegabte, jeder lebensfrischen Darstellung so mächtige Dichter neben den, freilich nur zu oft wiederholten, allgemeinen Schilderungen von Höhlen, Quellen und „stillen Mondnächten" eine überaus individualisirte, auch geognostisch wichtige Beschreibung des vulkanischen Ausbruchs bei Methone, zwischen Epidaurus und Trözen, gegeben. Es ist dieser Beschreibung schon an einem anderen Orte, in dem <hi rendition="#g">Naturgemälde</hi><note xml:id="ftn29" next="ftn29-text" place="end" n="30"/>, gedacht. Ovidius zeigt uns, „wie durch der eingezwängten Dämpfe Kraft der Boden gleich einer luftgefüllten Blase, gleich dem Fell des zweigehörnten Bockes anschwillt und sich als ein Hügel erhebt".</p> <p>Am meisten ist zu bedauern, daß Tibullus keine große naturbeschreibende Composition von individuellem Charakter hat hinterlassen können. 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Von Ovidius hätten wir als Frucht seines langen Aufenthalts in den Ebenen von Tomi (in Unter-Mösien) eine dichterische Naturbeschreibung der Steppen erwarten können, deren keine aus dem Alterthum auf uns gekommen ist. Der Verbannte sah freilich nicht die Art von Steppen, welche im Sommer mit vier bis sechs Fuß hohen, saftreichen Kräutern dicht bedeckt sind und bei jedem Windeshauch das anmuthige Bild bewegter Blüthenwellen darbieten; der Verbannungsort des Ovidius war ein ödes, sumpfreiches Steppenland, und der gebrochene Geist des unmännlich Klagenden war mit Erinnerungen an die Genüsse der geselligen Welt, an die politischen Ereignisse in Rom, nicht mit der Anschauung der ihn umgebenden scythischen Einöde erfüllt. Als Ersatz hat uns der hochbegabte, jeder lebensfrischen Darstellung so mächtige Dichter neben den, freilich nur zu oft wiederholten, allgemeinen Schilderungen von Höhlen, Quellen und „stillen Mondnächten" eine überaus individualisirte, auch geognostisch wichtige Beschreibung des vulkanischen Ausbruchs bei Methone, zwischen Epidaurus und Trözen, gegeben. Es ist dieser Beschreibung schon an einem anderen Orte, in dem Naturgemälde
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Am meisten ist zu bedauern, daß Tibullus keine große naturbeschreibende Composition von individuellem Charakter hat hinterlassen können. Unter den Dichtern des Augusteischen Zeitalters gehört er zu den wenigen, die, der alexandrinischen Gelehrsamkeit glücklicherweise fremd, der
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Zitationshilfe: | Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/25>, abgerufen am 16.07.2024. |