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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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untersuchenden, wie der gegenwärtige, ist man wenigstens
gewiss, den ganzen Umfang des Gegenstandes umspannt, nichts
übersehen, und die Grundsätze gerade in der Folge entwickelt
zu haben, in welcher sie wirklich aus einander herfliessen.

Man hat, vorzüglich seit einiger Zeit, so sehr auf die Ver-
hütung gesetzwidriger Handlungen und auf Anwendung mora-
lischer Mittel im Staate gedrungen. Ich, so oft ich dergleichen
oder ähnliche Aufforderungen höre, freue mich, gesteh' ich, dass
eine solche freiheitbeschränkende Anwendung bei uns immer
weniger gemacht, und, bei der Lage fast aller Staaten, immer
weniger möglich wird.

Man beruft sich auf Griechenland und Rom, aber eine
genauere Kenntniss ihrer Verfassungen würde bald zeigen, wie
unpassend diese Vergleichungen sind. Jene Staaten waren
Republiken, ihre Anstalten dieser Art waren Stützen der freien
Verfassung, welche die Bürger mit einem Enthusiasmus erfüllte,
welcher den nachtheiligen Einfluss der Einschränkung der Pri-
vatfreiheit minder fühlen, und die Energie des Charakters
minder schädlich werden liess. Dann genossen sie auch übrigens
einer grösseren Freiheit, als wir, und was sie aufopferten,
opferten sie einer andern Thätigkeit, dem Antheil an der Regie-
rung, auf. In unsern, meistentheils monarchischen Staaten ist
das alles ganz anders. Was die Alten von moralischen Mitteln
anwenden mochten, Nationalerziehung, Religion, Sittengesetze,
alles würde bei uns minder fruchten, und einen grösseren Scha-
den bringen. Dann war auch das Meiste, was man jetzt so oft
für Wirkung der Klugheit des Gesetzgebers hält, blos schon
wirkliche, nur vielleicht wankende, und daher der Sanktion des
Gesetzes bedürfende Volkssitte. Die Uebereinstimmung der
Einrichtungen des Lykurgus mit der Lebensart der meisten
unkultivirten Nationen hat schon Freguson+) meisterhaft gezeigt,

+) An essay on the history of civil society. Basel 1789. p. 123--146. Of
rude nations prior to the establishment of property.

untersuchenden, wie der gegenwärtige, ist man wenigstens
gewiss, den ganzen Umfang des Gegenstandes umspannt, nichts
übersehen, und die Grundsätze gerade in der Folge entwickelt
zu haben, in welcher sie wirklich aus einander herfliessen.

Man hat, vorzüglich seit einiger Zeit, so sehr auf die Ver-
hütung gesetzwidriger Handlungen und auf Anwendung mora-
lischer Mittel im Staate gedrungen. Ich, so oft ich dergleichen
oder ähnliche Aufforderungen höre, freue mich, gesteh’ ich, dass
eine solche freiheitbeschränkende Anwendung bei uns immer
weniger gemacht, und, bei der Lage fast aller Staaten, immer
weniger möglich wird.

Man beruft sich auf Griechenland und Rom, aber eine
genauere Kenntniss ihrer Verfassungen würde bald zeigen, wie
unpassend diese Vergleichungen sind. Jene Staaten waren
Republiken, ihre Anstalten dieser Art waren Stützen der freien
Verfassung, welche die Bürger mit einem Enthusiasmus erfüllte,
welcher den nachtheiligen Einfluss der Einschränkung der Pri-
vatfreiheit minder fühlen, und die Energie des Charakters
minder schädlich werden liess. Dann genossen sie auch übrigens
einer grösseren Freiheit, als wir, und was sie aufopferten,
opferten sie einer andern Thätigkeit, dem Antheil an der Regie-
rung, auf. In unsern, meistentheils monarchischen Staaten ist
das alles ganz anders. Was die Alten von moralischen Mitteln
anwenden mochten, Nationalerziehung, Religion, Sittengesetze,
alles würde bei uns minder fruchten, und einen grösseren Scha-
den bringen. Dann war auch das Meiste, was man jetzt so oft
für Wirkung der Klugheit des Gesetzgebers hält, blos schon
wirkliche, nur vielleicht wankende, und daher der Sanktion des
Gesetzes bedürfende Volkssitte. Die Uebereinstimmung der
Einrichtungen des Lykurgus mit der Lebensart der meisten
unkultivirten Nationen hat schon Freguson†) meisterhaft gezeigt,

†) An essay on the history of civil society. Basel 1789. p. 123—146. Of
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[55/0091] untersuchenden, wie der gegenwärtige, ist man wenigstens gewiss, den ganzen Umfang des Gegenstandes umspannt, nichts übersehen, und die Grundsätze gerade in der Folge entwickelt zu haben, in welcher sie wirklich aus einander herfliessen. Man hat, vorzüglich seit einiger Zeit, so sehr auf die Ver- hütung gesetzwidriger Handlungen und auf Anwendung mora- lischer Mittel im Staate gedrungen. Ich, so oft ich dergleichen oder ähnliche Aufforderungen höre, freue mich, gesteh’ ich, dass eine solche freiheitbeschränkende Anwendung bei uns immer weniger gemacht, und, bei der Lage fast aller Staaten, immer weniger möglich wird. Man beruft sich auf Griechenland und Rom, aber eine genauere Kenntniss ihrer Verfassungen würde bald zeigen, wie unpassend diese Vergleichungen sind. Jene Staaten waren Republiken, ihre Anstalten dieser Art waren Stützen der freien Verfassung, welche die Bürger mit einem Enthusiasmus erfüllte, welcher den nachtheiligen Einfluss der Einschränkung der Pri- vatfreiheit minder fühlen, und die Energie des Charakters minder schädlich werden liess. Dann genossen sie auch übrigens einer grösseren Freiheit, als wir, und was sie aufopferten, opferten sie einer andern Thätigkeit, dem Antheil an der Regie- rung, auf. In unsern, meistentheils monarchischen Staaten ist das alles ganz anders. Was die Alten von moralischen Mitteln anwenden mochten, Nationalerziehung, Religion, Sittengesetze, alles würde bei uns minder fruchten, und einen grösseren Scha- den bringen. Dann war auch das Meiste, was man jetzt so oft für Wirkung der Klugheit des Gesetzgebers hält, blos schon wirkliche, nur vielleicht wankende, und daher der Sanktion des Gesetzes bedürfende Volkssitte. Die Uebereinstimmung der Einrichtungen des Lykurgus mit der Lebensart der meisten unkultivirten Nationen hat schon Freguson †) meisterhaft gezeigt, †) An essay on the history of civil society. Basel 1789. p. 123—146. Of rude nations prior to the establishment of property.

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/91>, abgerufen am 02.05.2024.