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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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solche Umänderung unternehmen wollte? Einmal in jedem
Schritt, den er neu, nicht in Gefolge der einmaligen Lage der
Dinge thäte, der reinen Theorie streng folgen, es müsste denn
ein Umstand in der Gegenwart liegen, welcher, wenn man sie
ihr aufpfropfen wollte, sie verändern, ihre Folgen ganz oder zum
Theil vernichten würde. Zweitens alle Freiheitsbeschränkungen,
die einmal in der Gegenwart gegründet wären, so lange ruhig
bestehen lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kenn-
zeichen zu erkennen geben, dass sie dieselben als einengende
Fesseln ansehen, dass sie ihren Druck fühlen, und also in diesem
Stücke zur Freiheit reif sind; dann aber dieselben ungesäumt
entfernen. Endlich die Reife zur Freiheit durch jegliches Mit-
tel befördern. Dies Letztere ist unstreitig das Wichtigste, und
zugleich in diesem System das Einfachste. Denn durch nichts
wird diese Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert, als
durch Freiheit selbst. Diese Behauptung dürften zwar dieje-
nigen nicht anerkennen, welche sich so oft gerade dieses Man-
gels der Reife, als eines Vorwandes bedient haben, die Unter-
drückung fortdauern zu lassen. Allein sie folgt, dünkt mich,
unwidersprechlich aus der Natur des Menschen selbst. Mangel
an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellektueller und
moralischer Kräfte entspringen; diesem Mangel wird allein
durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung
aber fordert Uebung, und die Uebung Selbstthätigkeit er-
weckende Freiheit. Nur freilich heisst es nicht Freiheit geben,
wenn man Fesseln löst, welche der noch nicht als solche, fühlt,
welcher sie trägt. Von keinem Menschen der Welt aber, wie
verwahrlost er auch durch die Natur, wie herabgewürdigt durch
seine Lage sei, ist dies mit allen Fesseln der Fall, die ihn
drücken. Man löse also nach und nach gerade in eben der
Folge, wie das Gefühl der Freiheit erwacht, und mit jedem
neuen Schritt wird man den Fortschritt beschleunigen. Grosse
Schwierigkeiten können noch die Kennzeichen dieses Erwachens

solche Umänderung unternehmen wollte? Einmal in jedem
Schritt, den er neu, nicht in Gefolge der einmaligen Lage der
Dinge thäte, der reinen Theorie streng folgen, es müsste denn
ein Umstand in der Gegenwart liegen, welcher, wenn man sie
ihr aufpfropfen wollte, sie verändern, ihre Folgen ganz oder zum
Theil vernichten würde. Zweitens alle Freiheitsbeschränkungen,
die einmal in der Gegenwart gegründet wären, so lange ruhig
bestehen lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kenn-
zeichen zu erkennen geben, dass sie dieselben als einengende
Fesseln ansehen, dass sie ihren Druck fühlen, und also in diesem
Stücke zur Freiheit reif sind; dann aber dieselben ungesäumt
entfernen. Endlich die Reife zur Freiheit durch jegliches Mit-
tel befördern. Dies Letztere ist unstreitig das Wichtigste, und
zugleich in diesem System das Einfachste. Denn durch nichts
wird diese Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert, als
durch Freiheit selbst. Diese Behauptung dürften zwar dieje-
nigen nicht anerkennen, welche sich so oft gerade dieses Man-
gels der Reife, als eines Vorwandes bedient haben, die Unter-
drückung fortdauern zu lassen. Allein sie folgt, dünkt mich,
unwidersprechlich aus der Natur des Menschen selbst. Mangel
an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellektueller und
moralischer Kräfte entspringen; diesem Mangel wird allein
durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung
aber fordert Uebung, und die Uebung Selbstthätigkeit er-
weckende Freiheit. Nur freilich heisst es nicht Freiheit geben,
wenn man Fesseln löst, welche der noch nicht als solche, fühlt,
welcher sie trägt. Von keinem Menschen der Welt aber, wie
verwahrlost er auch durch die Natur, wie herabgewürdigt durch
seine Lage sei, ist dies mit allen Fesseln der Fall, die ihn
drücken. Man löse also nach und nach gerade in eben der
Folge, wie das Gefühl der Freiheit erwacht, und mit jedem
neuen Schritt wird man den Fortschritt beschleunigen. Grosse
Schwierigkeiten können noch die Kennzeichen dieses Erwachens

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[183/0219] solche Umänderung unternehmen wollte? Einmal in jedem Schritt, den er neu, nicht in Gefolge der einmaligen Lage der Dinge thäte, der reinen Theorie streng folgen, es müsste denn ein Umstand in der Gegenwart liegen, welcher, wenn man sie ihr aufpfropfen wollte, sie verändern, ihre Folgen ganz oder zum Theil vernichten würde. Zweitens alle Freiheitsbeschränkungen, die einmal in der Gegenwart gegründet wären, so lange ruhig bestehen lassen, bis die Menschen durch untrügliche Kenn- zeichen zu erkennen geben, dass sie dieselben als einengende Fesseln ansehen, dass sie ihren Druck fühlen, und also in diesem Stücke zur Freiheit reif sind; dann aber dieselben ungesäumt entfernen. Endlich die Reife zur Freiheit durch jegliches Mit- tel befördern. Dies Letztere ist unstreitig das Wichtigste, und zugleich in diesem System das Einfachste. Denn durch nichts wird diese Reife zur Freiheit in gleichem Grade befördert, als durch Freiheit selbst. Diese Behauptung dürften zwar dieje- nigen nicht anerkennen, welche sich so oft gerade dieses Man- gels der Reife, als eines Vorwandes bedient haben, die Unter- drückung fortdauern zu lassen. Allein sie folgt, dünkt mich, unwidersprechlich aus der Natur des Menschen selbst. Mangel an Reife zur Freiheit kann nur aus Mangel intellektueller und moralischer Kräfte entspringen; diesem Mangel wird allein durch Erhöhung derselben entgegengearbeitet; diese Erhöhung aber fordert Uebung, und die Uebung Selbstthätigkeit er- weckende Freiheit. Nur freilich heisst es nicht Freiheit geben, wenn man Fesseln löst, welche der noch nicht als solche, fühlt, welcher sie trägt. Von keinem Menschen der Welt aber, wie verwahrlost er auch durch die Natur, wie herabgewürdigt durch seine Lage sei, ist dies mit allen Fesseln der Fall, die ihn drücken. Man löse also nach und nach gerade in eben der Folge, wie das Gefühl der Freiheit erwacht, und mit jedem neuen Schritt wird man den Fortschritt beschleunigen. Grosse Schwierigkeiten können noch die Kennzeichen dieses Erwachens

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/219>, abgerufen am 28.04.2024.