Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf- hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht; gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht, wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist, wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen endliche Wesen fähig sind, ausruft:
Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz +)?
wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf- losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver- schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche, ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt? Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn
+) Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.)
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Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf- hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht; gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht, wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist, wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen endliche Wesen fähig sind, ausruft:
Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz †)?
wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf- losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver- schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche, ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt? Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn
†) Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.)
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Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf-
hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles
moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in
Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb
zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die
Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in
höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem
Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke
der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht
schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr
im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche
Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht;
gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt
er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein
Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein
Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch
die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern
Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in
seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht,
wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise
benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist,
wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in
sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen
endliche Wesen fähig sind, ausruft:
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz †)?
wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf-
losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver-
schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche,
ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt?
Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn
†) Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.)
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/103>, abgerufen am 16.07.2024.
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