sie überall entdecken. Das Endliche wird gleichsam unendlich, das Hinfällige bleibend, das Wandelbare stät, das Verschlun- gene einfach, wenn wir uns Eine ordnende Ursach an der Spitze der Dinge, und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen denken. Unser Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach Vollkommenheit gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit, wenn es ein Wesen für uns giebt, das der Quell aller Wahr- heit, der Inbegriff aller Vollkommenheit ist. Widrige Schick- sale werden der Seele weniger fühlbar, da Zuversicht und Hoffnung sich an sie knüpft. Das Gefühl, alles, was man besitzt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zugleich die Glückseligkeit und die moralische Güte. Durch Dankbar- keit bei der genossenen, durch hinlehnendes Vertrauen bei der ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus, brütet nicht immer, in sich verschlossen, über den eignen Empfindungen, Planen, Besorgnissen, Hoffnungen. Wenn sie das erhebende Gefühl entbehrt, sich allein alles zu danken; so geniesst sie das entzückende, in der Liebe eines andern Wesens zu leben, ein Gefühl, worin die eigne Vollkommenheit sich mit der Vollkom- menheit jenes Wesens gattet. Sie wird gestimmt, andren zu sein, was andre ihr sind; will nicht, dass andre ebenso alles aus sich selbst nehmen sollen, als sie nichts von andern empfängt. Ich habe hier nur die Hauptmomente dieser Untersuchung berührt. Tiefer in den Gegenstand einzugehen, würde, nach Garves meisterhafter Ausführung, unnütz und vermessen sein.
So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei der moralischen Vervollkommnung sind; so wenig sind sie doch auf der andern Seite unzertrennlich damit verbunden. Die blosse Idee geistiger Vollkommenheit ist gross und füllend und erhebend genug, um nicht mehr einer andern Hülle oder Gestalt zu bedürfen. Und doch liegt jeder Religion eine Per- sonificirung, eine Art der Versinnlichung zum Grunde, ein Anthropomorphismus in höherem oder geringerem Grade.
sie überall entdecken. Das Endliche wird gleichsam unendlich, das Hinfällige bleibend, das Wandelbare stät, das Verschlun- gene einfach, wenn wir uns Eine ordnende Ursach an der Spitze der Dinge, und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen denken. Unser Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach Vollkommenheit gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit, wenn es ein Wesen für uns giebt, das der Quell aller Wahr- heit, der Inbegriff aller Vollkommenheit ist. Widrige Schick- sale werden der Seele weniger fühlbar, da Zuversicht und Hoffnung sich an sie knüpft. Das Gefühl, alles, was man besitzt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zugleich die Glückseligkeit und die moralische Güte. Durch Dankbar- keit bei der genossenen, durch hinlehnendes Vertrauen bei der ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus, brütet nicht immer, in sich verschlossen, über den eignen Empfindungen, Planen, Besorgnissen, Hoffnungen. Wenn sie das erhebende Gefühl entbehrt, sich allein alles zu danken; so geniesst sie das entzückende, in der Liebe eines andern Wesens zu leben, ein Gefühl, worin die eigne Vollkommenheit sich mit der Vollkom- menheit jenes Wesens gattet. Sie wird gestimmt, andren zu sein, was andre ihr sind; will nicht, dass andre ebenso alles aus sich selbst nehmen sollen, als sie nichts von andern empfängt. Ich habe hier nur die Hauptmomente dieser Untersuchung berührt. Tiefer in den Gegenstand einzugehen, würde, nach Garves meisterhafter Ausführung, unnütz und vermessen sein.
So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei der moralischen Vervollkommnung sind; so wenig sind sie doch auf der andern Seite unzertrennlich damit verbunden. Die blosse Idee geistiger Vollkommenheit ist gross und füllend und erhebend genug, um nicht mehr einer andern Hülle oder Gestalt zu bedürfen. Und doch liegt jeder Religion eine Per- sonificirung, eine Art der Versinnlichung zum Grunde, ein Anthropomorphismus in höherem oder geringerem Grade.
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sie überall entdecken. Das Endliche wird gleichsam unendlich,
das Hinfällige bleibend, das Wandelbare stät, das Verschlun-
gene einfach, wenn wir uns Eine ordnende Ursach an der Spitze
der Dinge, und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen
denken. Unser Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach
Vollkommenheit gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit,
wenn es ein Wesen für uns giebt, das der Quell aller Wahr-
heit, der Inbegriff aller Vollkommenheit ist. Widrige Schick-
sale werden der Seele weniger fühlbar, da Zuversicht und
Hoffnung sich an sie knüpft. Das Gefühl, alles, was man
besitzt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zugleich
die Glückseligkeit und die moralische Güte. Durch Dankbar-
keit bei der genossenen, durch hinlehnendes Vertrauen bei der
ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus, brütet nicht
immer, in sich verschlossen, über den eignen Empfindungen,
Planen, Besorgnissen, Hoffnungen. Wenn sie das erhebende
Gefühl entbehrt, sich allein alles zu danken; so geniesst sie das
entzückende, in der Liebe eines andern Wesens zu leben, ein
Gefühl, worin die eigne Vollkommenheit sich mit der Vollkom-
menheit jenes Wesens gattet. Sie wird gestimmt, andren zu
sein, was andre ihr sind; will nicht, dass andre ebenso alles
aus sich selbst nehmen sollen, als sie nichts von andern empfängt.
Ich habe hier nur die Hauptmomente dieser Untersuchung
berührt. Tiefer in den Gegenstand einzugehen, würde, nach
Garves meisterhafter Ausführung, unnütz und vermessen sein.
So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei
der moralischen Vervollkommnung sind; so wenig sind sie
doch auf der andern Seite unzertrennlich damit verbunden.
Die blosse Idee geistiger Vollkommenheit ist gross und füllend
und erhebend genug, um nicht mehr einer andern Hülle oder
Gestalt zu bedürfen. Und doch liegt jeder Religion eine Per-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/102>, abgerufen am 16.02.2025.
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