Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

Gewächs 1 sein, von dem diese herrlichen Rohre kommen? Haben
wir wirklich die Internodia einer Grasart aus der Sippe
der Nostoiden vor uns gehabt? oder sollte dieser Carice eine
Cyperacea 2 ohne Knoten sein? Ich vermag diese Fragen nicht
zu beantworten, so wenig ich weiß, welcher Gattung ein an-
deres Gewächs angehört, von dem die Marimahemden
kommen. Wir sahen am Abhang des Cerro Duida über 16 m
hohe Stämme des Hemdbaumes. Die Indianer schneiden
cylindrische Stücke von 2,6 m Durchmesser davon ab und
nehmen die rote, faserige Rinde weg, wobei sie sich in acht
nehmen, keinen Längsschnitt zu machen. Diese Rinde gibt
ihnen eine Art Kleidungsstück, das Säcken ohne Naht von
sehr grobem Stoffe gleicht. Durch die obere Oeffnung steckt
man den Kopf, und um die Arme durchzustecken, schneidet
man zur Seite zwei Löcher ein. Der Eingeborene trägt diese
Marimahemden bei sehr starkem Regen; sie haben die Form
der baumwollenen Ponchos und Ruanas, die in Neu-
granada, Quito und Peru allgemein getragen werden. Da
die überschwengliche Freigebigkeit der Natur in diesen Him-
melsstrichen für die Hauptursache gilt, warum die Menschen
so träge sind, so vergessen die Missionäre, wenn sie Marima-
hemden vorweisen, nie die Bemerkung zu machen, "in den
Wäldern am Orinoko wachsen die Kleider fertig auf den
Bäumen". Zu dieser Geschichte von den Hemden gehören
auch die spitzen Mützen, welche die Blumenscheiden gewisser
Palmen liefern und die einem weitmaschigen Gewebe gleichen.

Beim Feste, dem wir beiwohnten, waren die Weiber vom
Tanz und jeder öffentlichen Lustbarkeit ausgeschlossen; ihr
trauriges Geschäft bestand darin, den Männern Affenbraten,
gegorenes Getränk und Palmkohl aufzutragen. Des letzteren
Produktes, das wie unser Blumenkohl schmeckt, erwähne ich
nur, weil wir in keinem Lande so ausnehmend große Stücke
gesehen haben. Die noch nicht entwickelten Blätter sind mit
dem jungen Stengel verschmolzen, und wir haben Cylinder
gemessen, die 2 m lang und 11 m m dick waren. Eine andere,
weit nahrhaftere Substanz kommt aus dem Tierreich, das

1 Schon die glatte Oberfläche der Blaserohre beweist, daß sie
von keinem Gewächs aus der Familie der Schirmpflanzen kommen
können.
2 Der Caricillo del Manati, der an den Ufern des Orinoko
in Menge wächst, wird 2,6 bis 5 m lang.

Gewächs 1 ſein, von dem dieſe herrlichen Rohre kommen? Haben
wir wirklich die Internodia einer Grasart aus der Sippe
der Noſtoiden vor uns gehabt? oder ſollte dieſer Carice eine
Cyperacea 2 ohne Knoten ſein? Ich vermag dieſe Fragen nicht
zu beantworten, ſo wenig ich weiß, welcher Gattung ein an-
deres Gewächs angehört, von dem die Marimahemden
kommen. Wir ſahen am Abhang des Cerro Duida über 16 m
hohe Stämme des Hemdbaumes. Die Indianer ſchneiden
cylindriſche Stücke von 2,6 m Durchmeſſer davon ab und
nehmen die rote, faſerige Rinde weg, wobei ſie ſich in acht
nehmen, keinen Längsſchnitt zu machen. Dieſe Rinde gibt
ihnen eine Art Kleidungsſtück, das Säcken ohne Naht von
ſehr grobem Stoffe gleicht. Durch die obere Oeffnung ſteckt
man den Kopf, und um die Arme durchzuſtecken, ſchneidet
man zur Seite zwei Löcher ein. Der Eingeborene trägt dieſe
Marimahemden bei ſehr ſtarkem Regen; ſie haben die Form
der baumwollenen Ponchos und Ruanas, die in Neu-
granada, Quito und Peru allgemein getragen werden. Da
die überſchwengliche Freigebigkeit der Natur in dieſen Him-
melsſtrichen für die Haupturſache gilt, warum die Menſchen
ſo träge ſind, ſo vergeſſen die Miſſionäre, wenn ſie Marima-
hemden vorweiſen, nie die Bemerkung zu machen, „in den
Wäldern am Orinoko wachſen die Kleider fertig auf den
Bäumen“. Zu dieſer Geſchichte von den Hemden gehören
auch die ſpitzen Mützen, welche die Blumenſcheiden gewiſſer
Palmen liefern und die einem weitmaſchigen Gewebe gleichen.

Beim Feſte, dem wir beiwohnten, waren die Weiber vom
Tanz und jeder öffentlichen Luſtbarkeit ausgeſchloſſen; ihr
trauriges Geſchäft beſtand darin, den Männern Affenbraten,
gegorenes Getränk und Palmkohl aufzutragen. Des letzteren
Produktes, das wie unſer Blumenkohl ſchmeckt, erwähne ich
nur, weil wir in keinem Lande ſo ausnehmend große Stücke
geſehen haben. Die noch nicht entwickelten Blätter ſind mit
dem jungen Stengel verſchmolzen, und wir haben Cylinder
gemeſſen, die 2 m lang und 11 m m dick waren. Eine andere,
weit nahrhaftere Subſtanz kommt aus dem Tierreich, das

1 Schon die glatte Oberfläche der Blaſerohre beweiſt, daß ſie
von keinem Gewächs aus der Familie der Schirmpflanzen kommen
können.
2 Der Caricillo del Manati, der an den Ufern des Orinoko
in Menge wächſt, wird 2,6 bis 5 m lang.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="76"/>
Gewächs <note place="foot" n="1">Schon die glatte Oberfläche der Bla&#x017F;erohre bewei&#x017F;t, daß &#x017F;ie<lb/>
von keinem Gewächs aus der Familie der Schirmpflanzen kommen<lb/>
können.</note> &#x017F;ein, von dem die&#x017F;e herrlichen Rohre kommen? Haben<lb/>
wir wirklich die Internodia einer Grasart aus der Sippe<lb/>
der No&#x017F;toiden vor uns gehabt? oder &#x017F;ollte die&#x017F;er Carice eine<lb/>
Cyperacea <note place="foot" n="2">Der <hi rendition="#aq">Caricillo del Manati,</hi> der an den Ufern des Orinoko<lb/>
in Menge wäch&#x017F;t, wird 2,6 bis 5 <hi rendition="#aq">m</hi> lang.</note> ohne Knoten &#x017F;ein? Ich vermag die&#x017F;e Fragen nicht<lb/>
zu beantworten, &#x017F;o wenig ich weiß, welcher Gattung ein an-<lb/>
deres Gewächs angehört, von dem die <hi rendition="#g">Marimahemden</hi><lb/>
kommen. Wir &#x017F;ahen am Abhang des Cerro Duida über 16 <hi rendition="#aq">m</hi><lb/>
hohe Stämme des <hi rendition="#g">Hemdbaumes</hi>. Die Indianer &#x017F;chneiden<lb/>
cylindri&#x017F;che Stücke von 2,6 <hi rendition="#aq">m</hi> Durchme&#x017F;&#x017F;er davon ab und<lb/>
nehmen die rote, fa&#x017F;erige Rinde weg, wobei &#x017F;ie &#x017F;ich in acht<lb/>
nehmen, keinen Längs&#x017F;chnitt zu machen. Die&#x017F;e Rinde gibt<lb/>
ihnen eine Art Kleidungs&#x017F;tück, das Säcken ohne Naht von<lb/>
&#x017F;ehr grobem Stoffe gleicht. Durch die obere Oeffnung &#x017F;teckt<lb/>
man den Kopf, und um die Arme durchzu&#x017F;tecken, &#x017F;chneidet<lb/>
man zur Seite zwei Löcher ein. Der Eingeborene trägt die&#x017F;e<lb/>
Marimahemden bei &#x017F;ehr &#x017F;tarkem Regen; &#x017F;ie haben die Form<lb/>
der baumwollenen <hi rendition="#g">Ponchos</hi> und <hi rendition="#g">Ruanas</hi>, die in Neu-<lb/>
granada, Quito und Peru allgemein getragen werden. Da<lb/>
die über&#x017F;chwengliche Freigebigkeit der Natur in die&#x017F;en Him-<lb/>
mels&#x017F;trichen für die Hauptur&#x017F;ache gilt, warum die Men&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;o träge &#x017F;ind, &#x017F;o verge&#x017F;&#x017F;en die Mi&#x017F;&#x017F;ionäre, wenn &#x017F;ie Marima-<lb/>
hemden vorwei&#x017F;en, nie die Bemerkung zu machen, &#x201E;in den<lb/>
Wäldern am Orinoko wach&#x017F;en die Kleider fertig auf den<lb/>
Bäumen&#x201C;. Zu die&#x017F;er Ge&#x017F;chichte von den Hemden gehören<lb/>
auch die &#x017F;pitzen Mützen, welche die Blumen&#x017F;cheiden gewi&#x017F;&#x017F;er<lb/>
Palmen liefern und die einem weitma&#x017F;chigen Gewebe gleichen.</p><lb/>
          <p>Beim Fe&#x017F;te, dem wir beiwohnten, waren die Weiber vom<lb/>
Tanz und jeder öffentlichen Lu&#x017F;tbarkeit ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en; ihr<lb/>
trauriges Ge&#x017F;chäft be&#x017F;tand darin, den Männern Affenbraten,<lb/>
gegorenes Getränk und Palmkohl aufzutragen. Des letzteren<lb/>
Produktes, das wie un&#x017F;er Blumenkohl &#x017F;chmeckt, erwähne ich<lb/>
nur, weil wir in keinem Lande &#x017F;o ausnehmend große Stücke<lb/>
ge&#x017F;ehen haben. Die noch nicht entwickelten Blätter &#x017F;ind mit<lb/>
dem jungen Stengel ver&#x017F;chmolzen, und wir haben Cylinder<lb/>
geme&#x017F;&#x017F;en, die 2 <hi rendition="#aq">m</hi> lang und 11 <hi rendition="#aq">m m</hi> dick waren. Eine andere,<lb/>
weit nahrhaftere Sub&#x017F;tanz kommt aus dem Tierreich, das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0084] Gewächs 1 ſein, von dem dieſe herrlichen Rohre kommen? Haben wir wirklich die Internodia einer Grasart aus der Sippe der Noſtoiden vor uns gehabt? oder ſollte dieſer Carice eine Cyperacea 2 ohne Knoten ſein? Ich vermag dieſe Fragen nicht zu beantworten, ſo wenig ich weiß, welcher Gattung ein an- deres Gewächs angehört, von dem die Marimahemden kommen. Wir ſahen am Abhang des Cerro Duida über 16 m hohe Stämme des Hemdbaumes. Die Indianer ſchneiden cylindriſche Stücke von 2,6 m Durchmeſſer davon ab und nehmen die rote, faſerige Rinde weg, wobei ſie ſich in acht nehmen, keinen Längsſchnitt zu machen. Dieſe Rinde gibt ihnen eine Art Kleidungsſtück, das Säcken ohne Naht von ſehr grobem Stoffe gleicht. Durch die obere Oeffnung ſteckt man den Kopf, und um die Arme durchzuſtecken, ſchneidet man zur Seite zwei Löcher ein. Der Eingeborene trägt dieſe Marimahemden bei ſehr ſtarkem Regen; ſie haben die Form der baumwollenen Ponchos und Ruanas, die in Neu- granada, Quito und Peru allgemein getragen werden. Da die überſchwengliche Freigebigkeit der Natur in dieſen Him- melsſtrichen für die Haupturſache gilt, warum die Menſchen ſo träge ſind, ſo vergeſſen die Miſſionäre, wenn ſie Marima- hemden vorweiſen, nie die Bemerkung zu machen, „in den Wäldern am Orinoko wachſen die Kleider fertig auf den Bäumen“. Zu dieſer Geſchichte von den Hemden gehören auch die ſpitzen Mützen, welche die Blumenſcheiden gewiſſer Palmen liefern und die einem weitmaſchigen Gewebe gleichen. Beim Feſte, dem wir beiwohnten, waren die Weiber vom Tanz und jeder öffentlichen Luſtbarkeit ausgeſchloſſen; ihr trauriges Geſchäft beſtand darin, den Männern Affenbraten, gegorenes Getränk und Palmkohl aufzutragen. Des letzteren Produktes, das wie unſer Blumenkohl ſchmeckt, erwähne ich nur, weil wir in keinem Lande ſo ausnehmend große Stücke geſehen haben. Die noch nicht entwickelten Blätter ſind mit dem jungen Stengel verſchmolzen, und wir haben Cylinder gemeſſen, die 2 m lang und 11 m m dick waren. Eine andere, weit nahrhaftere Subſtanz kommt aus dem Tierreich, das 1 Schon die glatte Oberfläche der Blaſerohre beweiſt, daß ſie von keinem Gewächs aus der Familie der Schirmpflanzen kommen können. 2 Der Caricillo del Manati, der an den Ufern des Orinoko in Menge wächſt, wird 2,6 bis 5 m lang.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/84
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/84>, abgerufen am 06.05.2024.