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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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zum Calixelf, der ein kleines hydraulisches System für sich
bildet. Dieser Cassiquiare der nördlichen Zone ist nur
45 bis 54 km lang, er macht aber alles Land am bottnischen
Busen zu einer wahren Flußinsel. Durch Leopold von Buch
wissen wir, daß die Existenz dieses natürlichen Kanales lange
so hartnäckig geleugnet wurde, wie die eines Armes des Ori-
noko, der in das Becken des Amazonenstromes läuft. Eine
andere Gabelteilung, die wegen des alten Verkehres zwischen
den Völkern Latiums und Etruriens noch mehr Interesse hat,
scheint ehemals am Trasimenischen See stattgefunden zu haben.
Auf seiner vielberufenen Voltata von Süd nach West und
Nord zwischen Bibieno und Ponta Sieve teilte sich der Arno
bei Arezzo in zwei Arme, deren einer, wie jetzt, über Florenz
und Pisa dem Meere zulief, während der andere durch das
Thal von Chiana floß und sich mit dem Tiber vereinigte,
entweder unmittelbar oder durch die Paglia als Zwischenglied.
Fossombroni hat dargethan, wie sich im Mittelalter durch An-
schwemmungen im Thale von Chiana eine Wasserscheide bildete,
und wie jetzt das nördliche Stück des Arno Teverino von
Süd nach Nord (auf dem Gegenhange) aus dem kleinen See
von Montepulciano in den Arno fließt. So hatte denn der
klassische Boden Italiens neben so vielen Wundern der Natur
und der Kunst auch eine Gabelteilung aufzuweisen, wie sie
in den Wäldern der Neuen Welt in ungleich größerem Maß-
stabe auftritt.

Ich bin nach meiner Rückkehr vom Orinoko oft gefragt
worden, ob ich glaube, daß der Kanal des Cassiquiare allmählich
durch Anschwemmungen verstopft werden möchte, ob ich nicht
der Ansicht sei, daß die zwei größten Flußsysteme Amerikas
unter den Tropen im Laufe der Jahrhunderte sich ganz von-
einander trennen werden. Da ich es mir zum Gesetz gemacht
habe, nur Thatsächliches zu beschreiben und die Verhältnisse,
die in verschiedenen Ländern zwischen der Bodenbildung und
dem Laufe der Gewässer bestehen, zu vergleichen, so habe ich
alles bloß Hypothetische zu vermeiden. Zunächst bemerke ich,
daß der Cassiquiare in seinem gegenwärtigen Zustande keines-
wegs placidus et mitissimus amnis ist, wie es bei den Poeten
Latiums heißt; er gleicht durchaus nicht dem errans languido
flumine Cocytus,
da er im größten Teile seines Laufes die
ungemeine Geschwindigkeit von 1,95 bis 2,6 m in der Sekunde
hat. Es ist also wohl nicht zu fürchten, daß er ein mehrere
hundert Kilometer breites Bett ganz verstopft. Dieser Arm

zum Calixelf, der ein kleines hydrauliſches Syſtem für ſich
bildet. Dieſer Caſſiquiare der nördlichen Zone iſt nur
45 bis 54 km lang, er macht aber alles Land am bottniſchen
Buſen zu einer wahren Flußinſel. Durch Leopold von Buch
wiſſen wir, daß die Exiſtenz dieſes natürlichen Kanales lange
ſo hartnäckig geleugnet wurde, wie die eines Armes des Ori-
noko, der in das Becken des Amazonenſtromes läuft. Eine
andere Gabelteilung, die wegen des alten Verkehres zwiſchen
den Völkern Latiums und Etruriens noch mehr Intereſſe hat,
ſcheint ehemals am Traſimeniſchen See ſtattgefunden zu haben.
Auf ſeiner vielberufenen Voltata von Süd nach Weſt und
Nord zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve teilte ſich der Arno
bei Arezzo in zwei Arme, deren einer, wie jetzt, über Florenz
und Piſa dem Meere zulief, während der andere durch das
Thal von Chiana floß und ſich mit dem Tiber vereinigte,
entweder unmittelbar oder durch die Paglia als Zwiſchenglied.
Foſſombroni hat dargethan, wie ſich im Mittelalter durch An-
ſchwemmungen im Thale von Chiana eine Waſſerſcheide bildete,
und wie jetzt das nördliche Stück des Arno Teverino von
Süd nach Nord (auf dem Gegenhange) aus dem kleinen See
von Montepulciano in den Arno fließt. So hatte denn der
klaſſiſche Boden Italiens neben ſo vielen Wundern der Natur
und der Kunſt auch eine Gabelteilung aufzuweiſen, wie ſie
in den Wäldern der Neuen Welt in ungleich größerem Maß-
ſtabe auftritt.

Ich bin nach meiner Rückkehr vom Orinoko oft gefragt
worden, ob ich glaube, daß der Kanal des Caſſiquiare allmählich
durch Anſchwemmungen verſtopft werden möchte, ob ich nicht
der Anſicht ſei, daß die zwei größten Flußſyſteme Amerikas
unter den Tropen im Laufe der Jahrhunderte ſich ganz von-
einander trennen werden. Da ich es mir zum Geſetz gemacht
habe, nur Thatſächliches zu beſchreiben und die Verhältniſſe,
die in verſchiedenen Ländern zwiſchen der Bodenbildung und
dem Laufe der Gewäſſer beſtehen, zu vergleichen, ſo habe ich
alles bloß Hypothetiſche zu vermeiden. Zunächſt bemerke ich,
daß der Caſſiquiare in ſeinem gegenwärtigen Zuſtande keines-
wegs placidus et mitissimus amnis iſt, wie es bei den Poeten
Latiums heißt; er gleicht durchaus nicht dem errans languido
flumine Cocytus,
da er im größten Teile ſeines Laufes die
ungemeine Geſchwindigkeit von 1,95 bis 2,6 m in der Sekunde
hat. Es iſt alſo wohl nicht zu fürchten, daß er ein mehrere
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[38/0046] zum Calixelf, der ein kleines hydrauliſches Syſtem für ſich bildet. Dieſer Caſſiquiare der nördlichen Zone iſt nur 45 bis 54 km lang, er macht aber alles Land am bottniſchen Buſen zu einer wahren Flußinſel. Durch Leopold von Buch wiſſen wir, daß die Exiſtenz dieſes natürlichen Kanales lange ſo hartnäckig geleugnet wurde, wie die eines Armes des Ori- noko, der in das Becken des Amazonenſtromes läuft. Eine andere Gabelteilung, die wegen des alten Verkehres zwiſchen den Völkern Latiums und Etruriens noch mehr Intereſſe hat, ſcheint ehemals am Traſimeniſchen See ſtattgefunden zu haben. Auf ſeiner vielberufenen Voltata von Süd nach Weſt und Nord zwiſchen Bibieno und Ponta Sieve teilte ſich der Arno bei Arezzo in zwei Arme, deren einer, wie jetzt, über Florenz und Piſa dem Meere zulief, während der andere durch das Thal von Chiana floß und ſich mit dem Tiber vereinigte, entweder unmittelbar oder durch die Paglia als Zwiſchenglied. Foſſombroni hat dargethan, wie ſich im Mittelalter durch An- ſchwemmungen im Thale von Chiana eine Waſſerſcheide bildete, und wie jetzt das nördliche Stück des Arno Teverino von Süd nach Nord (auf dem Gegenhange) aus dem kleinen See von Montepulciano in den Arno fließt. So hatte denn der klaſſiſche Boden Italiens neben ſo vielen Wundern der Natur und der Kunſt auch eine Gabelteilung aufzuweiſen, wie ſie in den Wäldern der Neuen Welt in ungleich größerem Maß- ſtabe auftritt. Ich bin nach meiner Rückkehr vom Orinoko oft gefragt worden, ob ich glaube, daß der Kanal des Caſſiquiare allmählich durch Anſchwemmungen verſtopft werden möchte, ob ich nicht der Anſicht ſei, daß die zwei größten Flußſyſteme Amerikas unter den Tropen im Laufe der Jahrhunderte ſich ganz von- einander trennen werden. Da ich es mir zum Geſetz gemacht habe, nur Thatſächliches zu beſchreiben und die Verhältniſſe, die in verſchiedenen Ländern zwiſchen der Bodenbildung und dem Laufe der Gewäſſer beſtehen, zu vergleichen, ſo habe ich alles bloß Hypothetiſche zu vermeiden. Zunächſt bemerke ich, daß der Caſſiquiare in ſeinem gegenwärtigen Zuſtande keines- wegs placidus et mitissimus amnis iſt, wie es bei den Poeten Latiums heißt; er gleicht durchaus nicht dem errans languido flumine Cocytus, da er im größten Teile ſeines Laufes die ungemeine Geſchwindigkeit von 1,95 bis 2,6 m in der Sekunde hat. Es iſt alſo wohl nicht zu fürchten, daß er ein mehrere hundert Kilometer breites Bett ganz verſtopft. Dieſer Arm

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/46>, abgerufen am 29.03.2024.