Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

scheint, die dem Schwarzen Meere zufließen, trennt sich schein-
dar vom Becken derselben los und wendet sich dem Baltischen
Meere zu.

In Südamerika enthält eine ungeheure Ebene das Becken
des Amazonenstromes und einen Teil des Beckens des Orinoko;
aber in Deutschland, zwischen Melle und Osnabrück, haben
wir den seltenen Fall, daß ein sehr enges Thal die Becken
zweier kleiner, voneinander unabhängiger Flüsse verbindet. Die
Else und die Haase laufen anfangs nahe bei einander und
parallel von Süd nach Nord; wo sie aber in die Ebene treten,
weichen sie von Ost nach West auseinander und schließen sich
zwei ganz gesonderten Flußsystemen, dem der Werra und dem
der Ems, an.

Ich komme zur dritten Eigentümlichkeit im Laufe des
Orinoko, zu jener Gabelteilung, die man im Moment, da
ich nach Amerika abreiste, wieder in Zweifel gezogen hatte.
Diese Gabelteilung (divergium amnis) liegt nach meinen
astronomischen Beobachtungen in der Mission Esmeralda
unter 3° 10' nördlicher Breite und 68° 37' westlicher Länge
vom Meridian von Paris. Im Inneren von Südamerika
erfolgt dasselbe, was wir unter allen Landstrichen an den
Küsten vorkommen sehen. Nach den einfachsten geometrischen
Grundsätzen haben wir anzunehmen, daß die Bodenbildung
und der Stoß der Zuflüsse die Richtung der strömenden Ge-
wässer nach festen, gleichförmigen Gesetzen bestimmen. Die
Delta entstehen dadurch, daß auf der Ebene eines Küsten-
landes eine Gabelteilung erfolgt, und bei näherer Betrachtung
zeigen sich zuweilen in der Nähe dieser ozeanischen Gabelung
Verzweigungen mit anderen Flüssen, von denen Arme nicht
weit abliegen. Kommen nun aber Bodenflächen, so eben wie
das Küstenland im Inneren der Festländer gleichfalls vor,
so müssen sich dort auch dieselben Erscheinungen wiederholen.
Aus denselben Ursachen, welche an der Mündung eines großen
Stromes Gabelteilungen herbeiführen, können dergleichen auch
an seinen Quellen und in seinem oberen Laufe entstehen.
Drei Umstände tragen vorzugsweise dazu bei: die höchst un-
bedeutenden wellenförmigen Steigungen und Senkungen einer
Ebene, die zwei Strombecken zugleich umfaßt, die Breite des
einen der Hauptbehälter, und die Lage des Thalweges am
Rande selbst, der beide Becken scheidet.

Wenn die Linie des stärksten Falles durch einen gegebenen
Punkt läuft, und wenn sie, noch so weit verlängert, nicht auf

ſcheint, die dem Schwarzen Meere zufließen, trennt ſich ſchein-
dar vom Becken derſelben los und wendet ſich dem Baltiſchen
Meere zu.

In Südamerika enthält eine ungeheure Ebene das Becken
des Amazonenſtromes und einen Teil des Beckens des Orinoko;
aber in Deutſchland, zwiſchen Melle und Osnabrück, haben
wir den ſeltenen Fall, daß ein ſehr enges Thal die Becken
zweier kleiner, voneinander unabhängiger Flüſſe verbindet. Die
Elſe und die Haaſe laufen anfangs nahe bei einander und
parallel von Süd nach Nord; wo ſie aber in die Ebene treten,
weichen ſie von Oſt nach Weſt auseinander und ſchließen ſich
zwei ganz geſonderten Flußſyſtemen, dem der Werra und dem
der Ems, an.

Ich komme zur dritten Eigentümlichkeit im Laufe des
Orinoko, zu jener Gabelteilung, die man im Moment, da
ich nach Amerika abreiſte, wieder in Zweifel gezogen hatte.
Dieſe Gabelteilung (divergium amnis) liegt nach meinen
aſtronomiſchen Beobachtungen in der Miſſion Esmeralda
unter 3° 10′ nördlicher Breite und 68° 37′ weſtlicher Länge
vom Meridian von Paris. Im Inneren von Südamerika
erfolgt dasſelbe, was wir unter allen Landſtrichen an den
Küſten vorkommen ſehen. Nach den einfachſten geometriſchen
Grundſätzen haben wir anzunehmen, daß die Bodenbildung
und der Stoß der Zuflüſſe die Richtung der ſtrömenden Ge-
wäſſer nach feſten, gleichförmigen Geſetzen beſtimmen. Die
Delta entſtehen dadurch, daß auf der Ebene eines Küſten-
landes eine Gabelteilung erfolgt, und bei näherer Betrachtung
zeigen ſich zuweilen in der Nähe dieſer ozeaniſchen Gabelung
Verzweigungen mit anderen Flüſſen, von denen Arme nicht
weit abliegen. Kommen nun aber Bodenflächen, ſo eben wie
das Küſtenland im Inneren der Feſtländer gleichfalls vor,
ſo müſſen ſich dort auch dieſelben Erſcheinungen wiederholen.
Aus denſelben Urſachen, welche an der Mündung eines großen
Stromes Gabelteilungen herbeiführen, können dergleichen auch
an ſeinen Quellen und in ſeinem oberen Laufe entſtehen.
Drei Umſtände tragen vorzugsweiſe dazu bei: die höchſt un-
bedeutenden wellenförmigen Steigungen und Senkungen einer
Ebene, die zwei Strombecken zugleich umfaßt, die Breite des
einen der Hauptbehälter, und die Lage des Thalweges am
Rande ſelbſt, der beide Becken ſcheidet.

Wenn die Linie des ſtärkſten Falles durch einen gegebenen
Punkt läuft, und wenn ſie, noch ſo weit verlängert, nicht auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0043" n="35"/>
&#x017F;cheint, die dem Schwarzen Meere zufließen, trennt &#x017F;ich &#x017F;chein-<lb/>
dar vom Becken der&#x017F;elben los und wendet &#x017F;ich dem Balti&#x017F;chen<lb/>
Meere zu.</p><lb/>
          <p>In Südamerika enthält eine ungeheure Ebene das Becken<lb/>
des Amazonen&#x017F;tromes und einen Teil des Beckens des Orinoko;<lb/>
aber in Deut&#x017F;chland, zwi&#x017F;chen Melle und Osnabrück, haben<lb/>
wir den &#x017F;eltenen Fall, daß ein &#x017F;ehr enges Thal die Becken<lb/>
zweier kleiner, voneinander unabhängiger Flü&#x017F;&#x017F;e verbindet. Die<lb/>
El&#x017F;e und die Haa&#x017F;e laufen anfangs nahe bei einander und<lb/>
parallel von Süd nach Nord; wo &#x017F;ie aber in die Ebene treten,<lb/>
weichen &#x017F;ie von O&#x017F;t nach We&#x017F;t auseinander und &#x017F;chließen &#x017F;ich<lb/>
zwei ganz ge&#x017F;onderten Fluß&#x017F;y&#x017F;temen, dem der Werra und dem<lb/>
der Ems, an.</p><lb/>
          <p>Ich komme zur dritten Eigentümlichkeit im Laufe des<lb/>
Orinoko, zu jener Gabelteilung, die man im Moment, da<lb/>
ich nach Amerika abrei&#x017F;te, wieder in Zweifel gezogen hatte.<lb/>
Die&#x017F;e Gabelteilung (<hi rendition="#aq">divergium amnis</hi>) liegt nach meinen<lb/>
a&#x017F;tronomi&#x017F;chen Beobachtungen in der Mi&#x017F;&#x017F;ion Esmeralda<lb/>
unter 3° 10&#x2032; nördlicher Breite und 68° 37&#x2032; we&#x017F;tlicher Länge<lb/>
vom Meridian von Paris. Im Inneren von Südamerika<lb/>
erfolgt das&#x017F;elbe, was wir unter allen Land&#x017F;trichen an den<lb/>&#x017F;ten vorkommen &#x017F;ehen. Nach den einfach&#x017F;ten geometri&#x017F;chen<lb/>
Grund&#x017F;ätzen haben wir anzunehmen, daß die Bodenbildung<lb/>
und der Stoß der Zuflü&#x017F;&#x017F;e die Richtung der &#x017F;trömenden Ge-<lb/>&#x017F;&#x017F;er nach fe&#x017F;ten, gleichförmigen Ge&#x017F;etzen be&#x017F;timmen. Die<lb/><hi rendition="#g">Delta</hi> ent&#x017F;tehen dadurch, daß auf der Ebene eines Kü&#x017F;ten-<lb/>
landes eine Gabelteilung erfolgt, und bei näherer Betrachtung<lb/>
zeigen &#x017F;ich zuweilen in der Nähe die&#x017F;er ozeani&#x017F;chen Gabelung<lb/>
Verzweigungen mit anderen Flü&#x017F;&#x017F;en, von denen Arme nicht<lb/>
weit abliegen. Kommen nun aber Bodenflächen, &#x017F;o eben wie<lb/>
das Kü&#x017F;tenland im Inneren der Fe&#x017F;tländer gleichfalls vor,<lb/>
&#x017F;o mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich dort auch die&#x017F;elben Er&#x017F;cheinungen wiederholen.<lb/>
Aus den&#x017F;elben Ur&#x017F;achen, welche an der Mündung eines großen<lb/>
Stromes Gabelteilungen herbeiführen, können dergleichen auch<lb/>
an &#x017F;einen Quellen und in &#x017F;einem oberen Laufe ent&#x017F;tehen.<lb/>
Drei Um&#x017F;tände tragen vorzugswei&#x017F;e dazu bei: die höch&#x017F;t un-<lb/>
bedeutenden wellenförmigen Steigungen und Senkungen einer<lb/>
Ebene, die zwei Strombecken zugleich umfaßt, die Breite des<lb/>
einen der Hauptbehälter, und die Lage des Thalweges am<lb/>
Rande &#x017F;elb&#x017F;t, der beide Becken &#x017F;cheidet.</p><lb/>
          <p>Wenn die Linie des &#x017F;tärk&#x017F;ten Falles durch einen gegebenen<lb/>
Punkt läuft, und wenn &#x017F;ie, noch &#x017F;o weit verlängert, nicht auf<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0043] ſcheint, die dem Schwarzen Meere zufließen, trennt ſich ſchein- dar vom Becken derſelben los und wendet ſich dem Baltiſchen Meere zu. In Südamerika enthält eine ungeheure Ebene das Becken des Amazonenſtromes und einen Teil des Beckens des Orinoko; aber in Deutſchland, zwiſchen Melle und Osnabrück, haben wir den ſeltenen Fall, daß ein ſehr enges Thal die Becken zweier kleiner, voneinander unabhängiger Flüſſe verbindet. Die Elſe und die Haaſe laufen anfangs nahe bei einander und parallel von Süd nach Nord; wo ſie aber in die Ebene treten, weichen ſie von Oſt nach Weſt auseinander und ſchließen ſich zwei ganz geſonderten Flußſyſtemen, dem der Werra und dem der Ems, an. Ich komme zur dritten Eigentümlichkeit im Laufe des Orinoko, zu jener Gabelteilung, die man im Moment, da ich nach Amerika abreiſte, wieder in Zweifel gezogen hatte. Dieſe Gabelteilung (divergium amnis) liegt nach meinen aſtronomiſchen Beobachtungen in der Miſſion Esmeralda unter 3° 10′ nördlicher Breite und 68° 37′ weſtlicher Länge vom Meridian von Paris. Im Inneren von Südamerika erfolgt dasſelbe, was wir unter allen Landſtrichen an den Küſten vorkommen ſehen. Nach den einfachſten geometriſchen Grundſätzen haben wir anzunehmen, daß die Bodenbildung und der Stoß der Zuflüſſe die Richtung der ſtrömenden Ge- wäſſer nach feſten, gleichförmigen Geſetzen beſtimmen. Die Delta entſtehen dadurch, daß auf der Ebene eines Küſten- landes eine Gabelteilung erfolgt, und bei näherer Betrachtung zeigen ſich zuweilen in der Nähe dieſer ozeaniſchen Gabelung Verzweigungen mit anderen Flüſſen, von denen Arme nicht weit abliegen. Kommen nun aber Bodenflächen, ſo eben wie das Küſtenland im Inneren der Feſtländer gleichfalls vor, ſo müſſen ſich dort auch dieſelben Erſcheinungen wiederholen. Aus denſelben Urſachen, welche an der Mündung eines großen Stromes Gabelteilungen herbeiführen, können dergleichen auch an ſeinen Quellen und in ſeinem oberen Laufe entſtehen. Drei Umſtände tragen vorzugsweiſe dazu bei: die höchſt un- bedeutenden wellenförmigen Steigungen und Senkungen einer Ebene, die zwei Strombecken zugleich umfaßt, die Breite des einen der Hauptbehälter, und die Lage des Thalweges am Rande ſelbſt, der beide Becken ſcheidet. Wenn die Linie des ſtärkſten Falles durch einen gegebenen Punkt läuft, und wenn ſie, noch ſo weit verlängert, nicht auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/43
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/43>, abgerufen am 28.03.2024.