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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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aufzunehmen; er glaubte sogar an den merkwürdigen Fall,
der die Kariben veranlaßt haben soll, ihrer barbarischen Sitte
zu entsagen. "Die Eingeborenen einer kleinen Insel hatten
einen Dominikanermönch verzehrt, den sie von der Küste von
Portorico fortgeschleppt. Sie wurden alle krank, und mochten
fortan weder Mönch noch Laien verzehren."

Wenn die Kariben am Orinoko schon zu Anfang des
16. Jahrhunderts andere Sitten hatten als die auf den An-
tillen, wenn sie immer mit Unrecht der Anthropophagie be-
schuldigt worden sind, so ist dieser Unterschied nicht wohl
daher zu erklären, daß sie gesellschaftlich höher standen. Man
begegnet den seltsamsten Kontrasten in diesem Völkergewirre,
wo die einen nur von Fischen, Affen und Ameisen leben, an-
dere mehr oder weniger Ackerbauer sind, mehr oder weniger
das Verfertigen und Bemalen von Geschirren, die Weberei
von Hängematten und Baumwollenzeug als Gewerbe treiben.
Manche der letzteren halten an unmenschlichen Gebräuchen
fest, von denen die ersteren gar nichts wissen. Im Charakter
und in den Sitten eines Volkes wie in seiner Sprache spiegeln
sich sowohl seine vergangenen Zustände als die gegenwärtigen:
man müßte die ganze Geschichte der Gesittung oder der Ver-
wilderung einer Horde kennen, man müßte den menschlichen
Vereinen in ihrer ganzen Entwickelung und auf ihren ver-
schiedenen Lebensstufen nachgehen können, wollte man Pro-
bleme lösen, die ewig Rätsel bleiben werden, wenn man nur
die gegenwärtigen Verhältnisse ins Auge fassen kann.

"Sie machen sich keine Vorstellung davon," sagte der
alte Missionär in Mandavaca, "wie verdorben diese familia
de Indios
ist. Man nimmt Leute von einem neuen Stamme
im Dorfe auf; sie scheinen sanftmütig, redlich, gute Arbeiter;
man erlaubt ihnen einen Streifzug (entrada) mitzumachen,
um Eingeborene einzubringen, und hat genug zu thun, zu
verhindern, daß sie nicht alles, was ihnen in die Hände kommt,
umbringen und Stücke der Leichname verstecken." Denkt man
über die Sitten dieser Indianer nach, so erschrickt man ordent-
lich über diese Verschmelzung von Gefühlen, die sich auszu-
schließen scheinen, über die Unfähigkeit dieser Völker, sich an-
ders als nur teilweise zu humanisieren, über diese Uebermacht
der Bräuche, Vorurteile und Ueberlieferungen über die natür-
lichen Regungen des Gemütes. Wir hatten in unserer Piroge
einen Indianer, der vom Rio Guaisia entlaufen war und
sich in wenigen Wochen so weit civilisiert hatte, daß er uns

A. v. Humboldt, Reise. IV. 2

aufzunehmen; er glaubte ſogar an den merkwürdigen Fall,
der die Kariben veranlaßt haben ſoll, ihrer barbariſchen Sitte
zu entſagen. „Die Eingeborenen einer kleinen Inſel hatten
einen Dominikanermönch verzehrt, den ſie von der Küſte von
Portorico fortgeſchleppt. Sie wurden alle krank, und mochten
fortan weder Mönch noch Laien verzehren.“

Wenn die Kariben am Orinoko ſchon zu Anfang des
16. Jahrhunderts andere Sitten hatten als die auf den An-
tillen, wenn ſie immer mit Unrecht der Anthropophagie be-
ſchuldigt worden ſind, ſo iſt dieſer Unterſchied nicht wohl
daher zu erklären, daß ſie geſellſchaftlich höher ſtanden. Man
begegnet den ſeltſamſten Kontraſten in dieſem Völkergewirre,
wo die einen nur von Fiſchen, Affen und Ameiſen leben, an-
dere mehr oder weniger Ackerbauer ſind, mehr oder weniger
das Verfertigen und Bemalen von Geſchirren, die Weberei
von Hängematten und Baumwollenzeug als Gewerbe treiben.
Manche der letzteren halten an unmenſchlichen Gebräuchen
feſt, von denen die erſteren gar nichts wiſſen. Im Charakter
und in den Sitten eines Volkes wie in ſeiner Sprache ſpiegeln
ſich ſowohl ſeine vergangenen Zuſtände als die gegenwärtigen:
man müßte die ganze Geſchichte der Geſittung oder der Ver-
wilderung einer Horde kennen, man müßte den menſchlichen
Vereinen in ihrer ganzen Entwickelung und auf ihren ver-
ſchiedenen Lebensſtufen nachgehen können, wollte man Pro-
bleme löſen, die ewig Rätſel bleiben werden, wenn man nur
die gegenwärtigen Verhältniſſe ins Auge faſſen kann.

„Sie machen ſich keine Vorſtellung davon,“ ſagte der
alte Miſſionär in Mandavaca, „wie verdorben dieſe familia
de Indios
iſt. Man nimmt Leute von einem neuen Stamme
im Dorfe auf; ſie ſcheinen ſanftmütig, redlich, gute Arbeiter;
man erlaubt ihnen einen Streifzug (entrada) mitzumachen,
um Eingeborene einzubringen, und hat genug zu thun, zu
verhindern, daß ſie nicht alles, was ihnen in die Hände kommt,
umbringen und Stücke der Leichname verſtecken.“ Denkt man
über die Sitten dieſer Indianer nach, ſo erſchrickt man ordent-
lich über dieſe Verſchmelzung von Gefühlen, die ſich auszu-
ſchließen ſcheinen, über die Unfähigkeit dieſer Völker, ſich an-
ders als nur teilweiſe zu humaniſieren, über dieſe Uebermacht
der Bräuche, Vorurteile und Ueberlieferungen über die natür-
lichen Regungen des Gemütes. Wir hatten in unſerer Piroge
einen Indianer, der vom Rio Guaiſia entlaufen war und
ſich in wenigen Wochen ſo weit civiliſiert hatte, daß er uns

A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 2
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[17/0025] aufzunehmen; er glaubte ſogar an den merkwürdigen Fall, der die Kariben veranlaßt haben ſoll, ihrer barbariſchen Sitte zu entſagen. „Die Eingeborenen einer kleinen Inſel hatten einen Dominikanermönch verzehrt, den ſie von der Küſte von Portorico fortgeſchleppt. Sie wurden alle krank, und mochten fortan weder Mönch noch Laien verzehren.“ Wenn die Kariben am Orinoko ſchon zu Anfang des 16. Jahrhunderts andere Sitten hatten als die auf den An- tillen, wenn ſie immer mit Unrecht der Anthropophagie be- ſchuldigt worden ſind, ſo iſt dieſer Unterſchied nicht wohl daher zu erklären, daß ſie geſellſchaftlich höher ſtanden. Man begegnet den ſeltſamſten Kontraſten in dieſem Völkergewirre, wo die einen nur von Fiſchen, Affen und Ameiſen leben, an- dere mehr oder weniger Ackerbauer ſind, mehr oder weniger das Verfertigen und Bemalen von Geſchirren, die Weberei von Hängematten und Baumwollenzeug als Gewerbe treiben. Manche der letzteren halten an unmenſchlichen Gebräuchen feſt, von denen die erſteren gar nichts wiſſen. Im Charakter und in den Sitten eines Volkes wie in ſeiner Sprache ſpiegeln ſich ſowohl ſeine vergangenen Zuſtände als die gegenwärtigen: man müßte die ganze Geſchichte der Geſittung oder der Ver- wilderung einer Horde kennen, man müßte den menſchlichen Vereinen in ihrer ganzen Entwickelung und auf ihren ver- ſchiedenen Lebensſtufen nachgehen können, wollte man Pro- bleme löſen, die ewig Rätſel bleiben werden, wenn man nur die gegenwärtigen Verhältniſſe ins Auge faſſen kann. „Sie machen ſich keine Vorſtellung davon,“ ſagte der alte Miſſionär in Mandavaca, „wie verdorben dieſe familia de Indios iſt. Man nimmt Leute von einem neuen Stamme im Dorfe auf; ſie ſcheinen ſanftmütig, redlich, gute Arbeiter; man erlaubt ihnen einen Streifzug (entrada) mitzumachen, um Eingeborene einzubringen, und hat genug zu thun, zu verhindern, daß ſie nicht alles, was ihnen in die Hände kommt, umbringen und Stücke der Leichname verſtecken.“ Denkt man über die Sitten dieſer Indianer nach, ſo erſchrickt man ordent- lich über dieſe Verſchmelzung von Gefühlen, die ſich auszu- ſchließen ſcheinen, über die Unfähigkeit dieſer Völker, ſich an- ders als nur teilweiſe zu humaniſieren, über dieſe Uebermacht der Bräuche, Vorurteile und Ueberlieferungen über die natür- lichen Regungen des Gemütes. Wir hatten in unſerer Piroge einen Indianer, der vom Rio Guaiſia entlaufen war und ſich in wenigen Wochen ſo weit civiliſiert hatte, daß er uns A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 2

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/25>, abgerufen am 25.04.2024.