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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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halten, und daß die Völker, die eine Ehre darin suchen, ihre
Gefangenen zu verzehren, keineswegs immer die versunkensten
und wildesten sind. Diese Bemerkung hat etwas peinlich Er-
greifendes, Niederschlagendes; sie entging auch nicht den Mis-
sionären, die gebildet genug sind, um über die Sitten der
Völkerschaften, unter denen sie leben, nachzudenken. Die
Cabres, die Guipunavis und die Kariben waren von jeher
mächtiger und civilisierter als die anderen Horden am Orinoko,
und doch sind die beiden ersteren Menschenfresser, während
es die letzteren niemals waren. Man muß zwischen den ver-
schiedenen Zweigen, in welche die große Familie der karibischen
Völker zerfällt, genau unterscheiden. Diese Zweige sind so
zahlreich, wie die Stämme der Mongolen und westlichen Ta-
taren oder Turkomannen. Die Kariben auf dem Festlande,
auf den Ebenen zwischen dem unteren Orinoko, dem Rio
Branco, dem Essequibo und den Quellen des Oyapoc verab-
scheuen die Sitte, die Gefangenen zu verzehren. Diese bar-
barische Sitte 1 bestand bei der Entdeckung von Amerika nur
bei den Kariben auf den antillischen Inseln. Durch sie sind
die Worte Kannibalen, Kariben und Menschenfresser gleich-
bedeutend geworden, und die von ihnen verübten Grausam-
keiten veranlaßten das im Jahre 1504 erlassene Gesetz, das
den Spaniern gestattet, jeden Amerikaner, der erweislich kari-
bischen Stammes ist, zum Sklaven zu machen. Ich glaube
übrigens, daß die Menschenfresserei der Bewohner der An-
tillen in den Berichten der ersten Seefahrer stark übertrieben
ist. Ein ernster, scharfsinniger Geschichtschreiber, Herrera, hat
sich nicht gescheut, diese Geschichten in die Decades historicas

1 Kardinal Bembo sagt: "Insularem partem homines in-
colebant feri trucesque, qui puerorum et virorum carnibus,
quos aliis in insulis bello aut latrociniis coepissent, vescebantur;
a feminis abstinebant, Canibales appellati."
Ist das Wort
Kannibale, das hier von den Kariben auf den Antillen ge-
braucht wird, aus einer der Sprachen dieses Archipels (der haytischen),
oder hat man es in einer Mundart zu suchen, die in Florida zu
Hause ist, das nach einigen Sagen die ursprüngliche Heimat der
Kariben sein soll? Hat das Wort überhaupt einen Sinn, so
scheint es vielmehr "starke, tapfere Fremde" als Menschenfresser zu
bedeuten. Garcia in seinen etymologischen Phantasieen erklärt es
geradezu für phönizisch. Annibal und Cannibal können nach
ihm nur von derselben semitischen Wurzel herkommen.

halten, und daß die Völker, die eine Ehre darin ſuchen, ihre
Gefangenen zu verzehren, keineswegs immer die verſunkenſten
und wildeſten ſind. Dieſe Bemerkung hat etwas peinlich Er-
greifendes, Niederſchlagendes; ſie entging auch nicht den Miſ-
ſionären, die gebildet genug ſind, um über die Sitten der
Völkerſchaften, unter denen ſie leben, nachzudenken. Die
Cabres, die Guipunavis und die Kariben waren von jeher
mächtiger und civiliſierter als die anderen Horden am Orinoko,
und doch ſind die beiden erſteren Menſchenfreſſer, während
es die letzteren niemals waren. Man muß zwiſchen den ver-
ſchiedenen Zweigen, in welche die große Familie der karibiſchen
Völker zerfällt, genau unterſcheiden. Dieſe Zweige ſind ſo
zahlreich, wie die Stämme der Mongolen und weſtlichen Ta-
taren oder Turkomannen. Die Kariben auf dem Feſtlande,
auf den Ebenen zwiſchen dem unteren Orinoko, dem Rio
Branco, dem Eſſequibo und den Quellen des Oyapoc verab-
ſcheuen die Sitte, die Gefangenen zu verzehren. Dieſe bar-
bariſche Sitte 1 beſtand bei der Entdeckung von Amerika nur
bei den Kariben auf den antilliſchen Inſeln. Durch ſie ſind
die Worte Kannibalen, Kariben und Menſchenfreſſer gleich-
bedeutend geworden, und die von ihnen verübten Grauſam-
keiten veranlaßten das im Jahre 1504 erlaſſene Geſetz, das
den Spaniern geſtattet, jeden Amerikaner, der erweislich kari-
biſchen Stammes iſt, zum Sklaven zu machen. Ich glaube
übrigens, daß die Menſchenfreſſerei der Bewohner der An-
tillen in den Berichten der erſten Seefahrer ſtark übertrieben
iſt. Ein ernſter, ſcharfſinniger Geſchichtſchreiber, Herrera, hat
ſich nicht geſcheut, dieſe Geſchichten in die Decades historicas

1 Kardinal Bembo ſagt: „Insularem partem homines in-
colebant feri trucesque, qui puerorum et virorum carnibus,
quos aliis in insulis bello aut latrociniis coepissent, vescebantur;
a feminis abstinebant, Canibales appellati.“
Iſt das Wort
Kannibale, das hier von den Kariben auf den Antillen ge-
braucht wird, aus einer der Sprachen dieſes Archipels (der haytiſchen),
oder hat man es in einer Mundart zu ſuchen, die in Florida zu
Hauſe iſt, das nach einigen Sagen die urſprüngliche Heimat der
Kariben ſein ſoll? Hat das Wort überhaupt einen Sinn, ſo
ſcheint es vielmehr „ſtarke, tapfere Fremde“ als Menſchenfreſſer zu
bedeuten. Garcia in ſeinen etymologiſchen Phantaſieen erklärt es
geradezu für phöniziſch. Annibal und Cannibal können nach
ihm nur von derſelben ſemitiſchen Wurzel herkommen.
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[16/0024] halten, und daß die Völker, die eine Ehre darin ſuchen, ihre Gefangenen zu verzehren, keineswegs immer die verſunkenſten und wildeſten ſind. Dieſe Bemerkung hat etwas peinlich Er- greifendes, Niederſchlagendes; ſie entging auch nicht den Miſ- ſionären, die gebildet genug ſind, um über die Sitten der Völkerſchaften, unter denen ſie leben, nachzudenken. Die Cabres, die Guipunavis und die Kariben waren von jeher mächtiger und civiliſierter als die anderen Horden am Orinoko, und doch ſind die beiden erſteren Menſchenfreſſer, während es die letzteren niemals waren. Man muß zwiſchen den ver- ſchiedenen Zweigen, in welche die große Familie der karibiſchen Völker zerfällt, genau unterſcheiden. Dieſe Zweige ſind ſo zahlreich, wie die Stämme der Mongolen und weſtlichen Ta- taren oder Turkomannen. Die Kariben auf dem Feſtlande, auf den Ebenen zwiſchen dem unteren Orinoko, dem Rio Branco, dem Eſſequibo und den Quellen des Oyapoc verab- ſcheuen die Sitte, die Gefangenen zu verzehren. Dieſe bar- bariſche Sitte 1 beſtand bei der Entdeckung von Amerika nur bei den Kariben auf den antilliſchen Inſeln. Durch ſie ſind die Worte Kannibalen, Kariben und Menſchenfreſſer gleich- bedeutend geworden, und die von ihnen verübten Grauſam- keiten veranlaßten das im Jahre 1504 erlaſſene Geſetz, das den Spaniern geſtattet, jeden Amerikaner, der erweislich kari- biſchen Stammes iſt, zum Sklaven zu machen. Ich glaube übrigens, daß die Menſchenfreſſerei der Bewohner der An- tillen in den Berichten der erſten Seefahrer ſtark übertrieben iſt. Ein ernſter, ſcharfſinniger Geſchichtſchreiber, Herrera, hat ſich nicht geſcheut, dieſe Geſchichten in die Decades historicas 1 Kardinal Bembo ſagt: „Insularem partem homines in- colebant feri trucesque, qui puerorum et virorum carnibus, quos aliis in insulis bello aut latrociniis coepissent, vescebantur; a feminis abstinebant, Canibales appellati.“ Iſt das Wort Kannibale, das hier von den Kariben auf den Antillen ge- braucht wird, aus einer der Sprachen dieſes Archipels (der haytiſchen), oder hat man es in einer Mundart zu ſuchen, die in Florida zu Hauſe iſt, das nach einigen Sagen die urſprüngliche Heimat der Kariben ſein ſoll? Hat das Wort überhaupt einen Sinn, ſo ſcheint es vielmehr „ſtarke, tapfere Fremde“ als Menſchenfreſſer zu bedeuten. Garcia in ſeinen etymologiſchen Phantaſieen erklärt es geradezu für phöniziſch. Annibal und Cannibal können nach ihm nur von derſelben ſemitiſchen Wurzel herkommen.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/24>, abgerufen am 28.03.2024.