wahre Priesterstaaten. Befestigte Städte, Straßen und große steinerne Gebäude, ein merkwürdig entwickeltes Lebenssystem, Sonderung der Kasten, Männer- und Frauenklöster, geistliche Brüderschaften mit mehr oder minder strenger Regel, sehr verwickelte Zeiteinteilungen, die mit den Kalendern, den Tier- kreisen und der Astrologie der kultivierten asiatischen Völker Verwandtschaft haben, all das gehört in Amerika nur einem einzelnen Landstrich an, dem langen und schmalen Streifen Alpenland, der sich vom 30. Grad nördlicher bis zum 25. südlicher Breite erstreckt. In der Alten Welt ging der Zug der Völker von Ost nach West; nacheinander traten Basken oder Iberer, Kelten, Germanen und Pelasger auf. In der Neuen Welt gingen ähnliche Wanderungen in der Richtung von Nord nach Süd. In beiden Halbkugeln richtete sich die Bewegung der Völker nach dem Zug der Gebirge; aber im heißen Erdstrich wurden die gemäßigten Hochebenen der Kor- dilleren von bedeutenderem Einflusse auf die Geschicke des Menschengeschlechtes als die Gebirge in Centralasien und Europa. Da nun nur civilisierte Völker eine eigentliche Ge- schichte haben, so geht die Geschichte der Amerikaner in der Geschichte einiger weniger Gebirgsvölker auf. Tiefes Dunkel liegt auf dem unermeßlichen Lande, das sich vom Ostabhang der Kordilleren zum Atlantischen Ozean erstreckt, und gerade deshalb nimmt alles, was in diesem Lande auf das Ueber- gewicht einer Nation über die andere, auf weite Wanderzüge, auf phpsiognomische, fremde Abstammung verratende Züge deutet, unser Interesse so lebhaft in Anspruch.
Mitten auf den Niederungen von Nordamerika hat ein mächtiges ausgestorbenes Volk kreisrunde, viereckige, achteckige Festungswerke gebaut, Mauern, 11,7 km lang, Erdhügel von 195 bis 230 m Durchmesser und 45 m Höhe, die bald rund sind, bald mehrere Stockwerke haben und Tausende von Skeletten enthalten. Diese Skelette gehörten Menschen an, die nicht so hoch gewachsen, untersetzter waren als die gegen- wärtigen Bewohner dieser Länder. Andere Gebeine, in Ge- webe gehüllt, die mit denen auf den Sandwichs- und Viti- inseln Aehnlichkeit haben, findet man in natürlichen Höhlen in Kentucky. Was ist aus jenen Völkern in Louisiana ge- worden, die vor den Lenni-Lenape, den Shawanoes im Lande saßen, vielleicht sogar vor den Sioux (Nadowessier, Dacota) am Missouri, die stark "mongolisiert" sind und von denen man, nach ihren eigenen Sagen, annimmt, daß sie von den
wahre Prieſterſtaaten. Befeſtigte Städte, Straßen und große ſteinerne Gebäude, ein merkwürdig entwickeltes Lebensſyſtem, Sonderung der Kaſten, Männer- und Frauenklöſter, geiſtliche Brüderſchaften mit mehr oder minder ſtrenger Regel, ſehr verwickelte Zeiteinteilungen, die mit den Kalendern, den Tier- kreiſen und der Aſtrologie der kultivierten aſiatiſchen Völker Verwandtſchaft haben, all das gehört in Amerika nur einem einzelnen Landſtrich an, dem langen und ſchmalen Streifen Alpenland, der ſich vom 30. Grad nördlicher bis zum 25. ſüdlicher Breite erſtreckt. In der Alten Welt ging der Zug der Völker von Oſt nach Weſt; nacheinander traten Basken oder Iberer, Kelten, Germanen und Pelasger auf. In der Neuen Welt gingen ähnliche Wanderungen in der Richtung von Nord nach Süd. In beiden Halbkugeln richtete ſich die Bewegung der Völker nach dem Zug der Gebirge; aber im heißen Erdſtrich wurden die gemäßigten Hochebenen der Kor- dilleren von bedeutenderem Einfluſſe auf die Geſchicke des Menſchengeſchlechtes als die Gebirge in Centralaſien und Europa. Da nun nur civiliſierte Völker eine eigentliche Ge- ſchichte haben, ſo geht die Geſchichte der Amerikaner in der Geſchichte einiger weniger Gebirgsvölker auf. Tiefes Dunkel liegt auf dem unermeßlichen Lande, das ſich vom Oſtabhang der Kordilleren zum Atlantiſchen Ozean erſtreckt, und gerade deshalb nimmt alles, was in dieſem Lande auf das Ueber- gewicht einer Nation über die andere, auf weite Wanderzüge, auf phpſiognomiſche, fremde Abſtammung verratende Züge deutet, unſer Intereſſe ſo lebhaft in Anſpruch.
Mitten auf den Niederungen von Nordamerika hat ein mächtiges ausgeſtorbenes Volk kreisrunde, viereckige, achteckige Feſtungswerke gebaut, Mauern, 11,7 km lang, Erdhügel von 195 bis 230 m Durchmeſſer und 45 m Höhe, die bald rund ſind, bald mehrere Stockwerke haben und Tauſende von Skeletten enthalten. Dieſe Skelette gehörten Menſchen an, die nicht ſo hoch gewachſen, unterſetzter waren als die gegen- wärtigen Bewohner dieſer Länder. Andere Gebeine, in Ge- webe gehüllt, die mit denen auf den Sandwichs- und Viti- inſeln Aehnlichkeit haben, findet man in natürlichen Höhlen in Kentucky. Was iſt aus jenen Völkern in Louiſiana ge- worden, die vor den Lenni-Lenape, den Shawanoes im Lande ſaßen, vielleicht ſogar vor den Sioux (Nadoweſſier, Dacota) am Miſſouri, die ſtark „mongoliſiert“ ſind und von denen man, nach ihren eigenen Sagen, annimmt, daß ſie von den
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wahre Prieſterſtaaten. Befeſtigte Städte, Straßen und große
ſteinerne Gebäude, ein merkwürdig entwickeltes Lebensſyſtem,
Sonderung der Kaſten, Männer- und Frauenklöſter, geiſtliche
Brüderſchaften mit mehr oder minder ſtrenger Regel, ſehr
verwickelte Zeiteinteilungen, die mit den Kalendern, den Tier-
kreiſen und der Aſtrologie der kultivierten aſiatiſchen Völker
Verwandtſchaft haben, all das gehört in Amerika nur einem
einzelnen Landſtrich an, dem langen und ſchmalen Streifen
Alpenland, der ſich vom 30. Grad nördlicher bis zum 25.
ſüdlicher Breite erſtreckt. In der Alten Welt ging der Zug
der Völker von Oſt nach Weſt; nacheinander traten Basken
oder Iberer, Kelten, Germanen und Pelasger auf. In der
Neuen Welt gingen ähnliche Wanderungen in der Richtung
von Nord nach Süd. In beiden Halbkugeln richtete ſich die
Bewegung der Völker nach dem Zug der Gebirge; aber im
heißen Erdſtrich wurden die gemäßigten Hochebenen der Kor-
dilleren von bedeutenderem Einfluſſe auf die Geſchicke des
Menſchengeſchlechtes als die Gebirge in Centralaſien und
Europa. Da nun nur civiliſierte Völker eine eigentliche Ge-
ſchichte haben, ſo geht die Geſchichte der Amerikaner in der
Geſchichte einiger weniger Gebirgsvölker auf. Tiefes Dunkel
liegt auf dem unermeßlichen Lande, das ſich vom Oſtabhang
der Kordilleren zum Atlantiſchen Ozean erſtreckt, und gerade
deshalb nimmt alles, was in dieſem Lande auf das Ueber-
gewicht einer Nation über die andere, auf weite Wanderzüge,
auf phpſiognomiſche, fremde Abſtammung verratende Züge
deutet, unſer Intereſſe ſo lebhaft in Anſpruch.
Mitten auf den Niederungen von Nordamerika hat ein
mächtiges ausgeſtorbenes Volk kreisrunde, viereckige, achteckige
Feſtungswerke gebaut, Mauern, 11,7 km lang, Erdhügel von
195 bis 230 m Durchmeſſer und 45 m Höhe, die bald rund
ſind, bald mehrere Stockwerke haben und Tauſende von
Skeletten enthalten. Dieſe Skelette gehörten Menſchen an,
die nicht ſo hoch gewachſen, unterſetzter waren als die gegen-
wärtigen Bewohner dieſer Länder. Andere Gebeine, in Ge-
webe gehüllt, die mit denen auf den Sandwichs- und Viti-
inſeln Aehnlichkeit haben, findet man in natürlichen Höhlen
in Kentucky. Was iſt aus jenen Völkern in Louiſiana ge-
worden, die vor den Lenni-Lenape, den Shawanoes im Lande
ſaßen, vielleicht ſogar vor den Sioux (Nadoweſſier, Dacota)
am Miſſouri, die ſtark „mongoliſiert“ ſind und von denen
man, nach ihren eigenen Sagen, annimmt, daß ſie von den
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/242>, abgerufen am 26.06.2024.
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