Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.in Ermanglung von Taschen unter die Unterlippe steckten; sie Die Indianer in den Missionen von Piritu nahmen Ueberblickt man den Schwarm von Völkern, die in Süd- in Ermanglung von Taſchen unter die Unterlippe ſteckten; ſie Die Indianer in den Miſſionen von Piritu nahmen Ueberblickt man den Schwarm von Völkern, die in Süd- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0241" n="233"/> in Ermanglung von Taſchen unter die Unterlippe ſteckten; ſie<lb/> durchſtechen damit die Haut ſo, daß der Kopf der Nadel im<lb/> Munde bleibt. Dieſen Brauch haben ſie aus ihrem wilden<lb/> Zuſtande mit herübergenommen. Die jungen Mädchen ſind<lb/> rot bemalt und außer dem Guayuco ganz nackt. Bei den<lb/> verſchiedenen Völkern beider Welten iſt der Begriff der Nackt-<lb/> heit nur ein relativer. In einigen Ländern Aſiens iſt es<lb/> einem Weibe nicht geſtattet, auch nur die Fingerſpitzen ſehen<lb/> zu laſſen, während eine Indianerin vom karibiſchen Stamme<lb/> ſich gar nicht für nackt hält, wenn ſie einen zwei Zoll breiten<lb/> Guayuco trägt. Dabei gilt noch dieſe Leibbinde für ein weni-<lb/> ger weſentliches Kleidungsſtück als die Färbung der Haut. Aus<lb/> der Hütte zu gehen, ohne mit Onoto gefärbt zu ſein, wäre<lb/> ein Verſtoß gegen allen karibiſchen Anſtand.</p><lb/> <p>Die Indianer in den Miſſionen von Piritu nahmen<lb/> unſere Aufmerkſamkeit um ſo mehr in Anſpruch, als ſie einem<lb/> Volke angehören, das durch ſeine Kühnheit, durch ſeine Kriegs-<lb/> züge und ſeinen Handelsgeiſt auf die weite Landſtrecke zwiſchen<lb/> dem Aequator und den Nordküſten bedeutenden Einfluß geübt<lb/> hat. Allerorten am Orinoko hatten wir das Andenken an<lb/> jene feindlichen Einfälle der Kariben lebendig gefunden; die-<lb/> ſelben erſtreckten ſich früher von den Quellen des Carony und<lb/> des Erevato bis zum Ventuari, Atacavi und Rio Negro.<lb/> Die karibiſche Sprache iſt daher auch eine der verbreitetſten<lb/> in dieſem Teile der Welt; ſie iſt ſogar (wie im Weſten der<lb/> Alleghanies die Sprache der Lenni-Lenape oder Algonkin und<lb/> die der Natchez oder Muskoghi) auf Völker übergegangen,<lb/> die nicht desſelben Stammes ſind.</p><lb/> <p>Ueberblickt man den Schwarm von Völkern, die in Süd-<lb/> und Nordamerika oſtwärts von den Kordilleren der Anden<lb/> hauſen, ſo verweilt man vorzugsweiſe bei ſolchen, die lange<lb/> über ihre Nachbarn geherrſcht und auf dem Schauplatz der<lb/> Welt eine wichtigere Rolle geſpielt haben. Der Geſchicht-<lb/> ſchreiber fühlt das Bedürfnis, die Ereigniſſe zu gruppieren,<lb/> Maſſen zu ſondern, zu den gemeinſamen Quellen ſo vieler<lb/> Bewegungen und Wanderungen im Leben der Völker zurück-<lb/> zugehen. Große Reiche, eine förmlich organiſierte prieſterliche<lb/> Hierarchie und eine Kultur, wie ſie auf den erſten Entwicke-<lb/> lungsſtufen der Geſellſchaft durch eine ſolche Organiſation ge-<lb/> fördert wird, fanden ſich nur auf den Hochgebirgen im Weſten.<lb/> In Mexiko ſehen wir eine große Monarchie, die zerſtreute<lb/> kleine Republiken einſchließt, in Cundinamarca und Peru<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [233/0241]
in Ermanglung von Taſchen unter die Unterlippe ſteckten; ſie
durchſtechen damit die Haut ſo, daß der Kopf der Nadel im
Munde bleibt. Dieſen Brauch haben ſie aus ihrem wilden
Zuſtande mit herübergenommen. Die jungen Mädchen ſind
rot bemalt und außer dem Guayuco ganz nackt. Bei den
verſchiedenen Völkern beider Welten iſt der Begriff der Nackt-
heit nur ein relativer. In einigen Ländern Aſiens iſt es
einem Weibe nicht geſtattet, auch nur die Fingerſpitzen ſehen
zu laſſen, während eine Indianerin vom karibiſchen Stamme
ſich gar nicht für nackt hält, wenn ſie einen zwei Zoll breiten
Guayuco trägt. Dabei gilt noch dieſe Leibbinde für ein weni-
ger weſentliches Kleidungsſtück als die Färbung der Haut. Aus
der Hütte zu gehen, ohne mit Onoto gefärbt zu ſein, wäre
ein Verſtoß gegen allen karibiſchen Anſtand.
Die Indianer in den Miſſionen von Piritu nahmen
unſere Aufmerkſamkeit um ſo mehr in Anſpruch, als ſie einem
Volke angehören, das durch ſeine Kühnheit, durch ſeine Kriegs-
züge und ſeinen Handelsgeiſt auf die weite Landſtrecke zwiſchen
dem Aequator und den Nordküſten bedeutenden Einfluß geübt
hat. Allerorten am Orinoko hatten wir das Andenken an
jene feindlichen Einfälle der Kariben lebendig gefunden; die-
ſelben erſtreckten ſich früher von den Quellen des Carony und
des Erevato bis zum Ventuari, Atacavi und Rio Negro.
Die karibiſche Sprache iſt daher auch eine der verbreitetſten
in dieſem Teile der Welt; ſie iſt ſogar (wie im Weſten der
Alleghanies die Sprache der Lenni-Lenape oder Algonkin und
die der Natchez oder Muskoghi) auf Völker übergegangen,
die nicht desſelben Stammes ſind.
Ueberblickt man den Schwarm von Völkern, die in Süd-
und Nordamerika oſtwärts von den Kordilleren der Anden
hauſen, ſo verweilt man vorzugsweiſe bei ſolchen, die lange
über ihre Nachbarn geherrſcht und auf dem Schauplatz der
Welt eine wichtigere Rolle geſpielt haben. Der Geſchicht-
ſchreiber fühlt das Bedürfnis, die Ereigniſſe zu gruppieren,
Maſſen zu ſondern, zu den gemeinſamen Quellen ſo vieler
Bewegungen und Wanderungen im Leben der Völker zurück-
zugehen. Große Reiche, eine förmlich organiſierte prieſterliche
Hierarchie und eine Kultur, wie ſie auf den erſten Entwicke-
lungsſtufen der Geſellſchaft durch eine ſolche Organiſation ge-
fördert wird, fanden ſich nur auf den Hochgebirgen im Weſten.
In Mexiko ſehen wir eine große Monarchie, die zerſtreute
kleine Republiken einſchließt, in Cundinamarca und Peru
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