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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Vor wenigen Jahren hatte im letzteren Ort ein indianischer
Alkade eines seiner Weiber verzehrt, die er in seinen Conuco 1
hinausgenommen und gut genährt hatte, um sie fett zu
machen. Wenn die Völker in Guyana Menschenfleisch essen,
so werden sie nie durch Mangel oder durch gottesdienstlichen
Aberglauben dazu getrieben, wie die Menschen auf den Süd-
seeinseln; es beruht meist auf Rachsucht des Siegers und --
wie die Missionäre sagen -- auf "Verirrung des Appetites".
Der Sieg über eine feindliche Horde wird durch ein Mahl
gefeiert, wobei der Leichnam eines Gefangenen zum Teil ver-
zehrt wird. Ein andermal überfällt man bei Nacht eine
wehrlose Familie oder tötet einen Feind, auf den man zufällig
im Walde stößt, mit einem vergifteten Pfeil. Der Leichnam
wird zerstückt und als Trophäe nach Hause getragen. Erst
die Kultur hat dem Menschen die Einheit des Menschen-
geschlechtes zum Bewußtsein gebracht und ihm offenbart, daß
ihn auch mit Wesen, deren Sprache und Sitten ihm fremd
sind, ein Band der Blutsverwandtschaft verbindet. Die Wil-
den kennen nur ihre Familie, und ein Stamm erscheint
ihnen nur als ein größerer Verwandtschaftskreis. Kommen
Indianer, die sie nicht kennen, aus dem Walde in die Mission,
so brauchen sie einen Ausdruck, dessen naive Einfalt mir oft
aufgefallen ist: "Gewiß sind dies Verwandte von mir, denn
ich verstehe sie, wenn sie mit mir sprechen." Die Wilden
verabscheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem
Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerschaft,
mit der sie im Kriege leben, jagen sie, wie wir das Wild.
Die Pflichten gegen Familie und Verwandtschaft sind ihnen
wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten der Menschlichkeit,
die auf dem Bewußtsein beruhen, daß alle Wesen, die ge-
schaffen sind wie wir, ein Band umschlingt. Keine Regung
von Mitleid hält sie ab, Weiber oder Kinder eines feindlichen
Stammes ums Leben zu bringen. Letztere werden bei den
Mahlzeiten nach einem Gefecht oder einem Ueberfall vorzugs-
weise verzehrt.

Der Haß der Wilden fast gegen alle Menschen, die eine
andere Sprache reden und ihnen als Barbaren von nied-
rigerer Rasse als sie selbst erscheinen, bricht in den Missionen

1 Eine Hütte auf einem angebauten Grundstücke, eine Art
Landhaus, wo sich die Eingeborenen lieber aufhalten als in den
Missionen.

Vor wenigen Jahren hatte im letzteren Ort ein indianiſcher
Alkade eines ſeiner Weiber verzehrt, die er in ſeinen Conuco 1
hinausgenommen und gut genährt hatte, um ſie fett zu
machen. Wenn die Völker in Guyana Menſchenfleiſch eſſen,
ſo werden ſie nie durch Mangel oder durch gottesdienſtlichen
Aberglauben dazu getrieben, wie die Menſchen auf den Süd-
ſeeinſeln; es beruht meiſt auf Rachſucht des Siegers und —
wie die Miſſionäre ſagen — auf „Verirrung des Appetites“.
Der Sieg über eine feindliche Horde wird durch ein Mahl
gefeiert, wobei der Leichnam eines Gefangenen zum Teil ver-
zehrt wird. Ein andermal überfällt man bei Nacht eine
wehrloſe Familie oder tötet einen Feind, auf den man zufällig
im Walde ſtößt, mit einem vergifteten Pfeil. Der Leichnam
wird zerſtückt und als Trophäe nach Hauſe getragen. Erſt
die Kultur hat dem Menſchen die Einheit des Menſchen-
geſchlechtes zum Bewußtſein gebracht und ihm offenbart, daß
ihn auch mit Weſen, deren Sprache und Sitten ihm fremd
ſind, ein Band der Blutsverwandtſchaft verbindet. Die Wil-
den kennen nur ihre Familie, und ein Stamm erſcheint
ihnen nur als ein größerer Verwandtſchaftskreis. Kommen
Indianer, die ſie nicht kennen, aus dem Walde in die Miſſion,
ſo brauchen ſie einen Ausdruck, deſſen naive Einfalt mir oft
aufgefallen iſt: „Gewiß ſind dies Verwandte von mir, denn
ich verſtehe ſie, wenn ſie mit mir ſprechen.“ Die Wilden
verabſcheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem
Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerſchaft,
mit der ſie im Kriege leben, jagen ſie, wie wir das Wild.
Die Pflichten gegen Familie und Verwandtſchaft ſind ihnen
wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten der Menſchlichkeit,
die auf dem Bewußtſein beruhen, daß alle Weſen, die ge-
ſchaffen ſind wie wir, ein Band umſchlingt. Keine Regung
von Mitleid hält ſie ab, Weiber oder Kinder eines feindlichen
Stammes ums Leben zu bringen. Letztere werden bei den
Mahlzeiten nach einem Gefecht oder einem Ueberfall vorzugs-
weiſe verzehrt.

Der Haß der Wilden faſt gegen alle Menſchen, die eine
andere Sprache reden und ihnen als Barbaren von nied-
rigerer Raſſe als ſie ſelbſt erſcheinen, bricht in den Miſſionen

1 Eine Hütte auf einem angebauten Grundſtücke, eine Art
Landhaus, wo ſich die Eingeborenen lieber aufhalten als in den
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[14/0022] Vor wenigen Jahren hatte im letzteren Ort ein indianiſcher Alkade eines ſeiner Weiber verzehrt, die er in ſeinen Conuco 1 hinausgenommen und gut genährt hatte, um ſie fett zu machen. Wenn die Völker in Guyana Menſchenfleiſch eſſen, ſo werden ſie nie durch Mangel oder durch gottesdienſtlichen Aberglauben dazu getrieben, wie die Menſchen auf den Süd- ſeeinſeln; es beruht meiſt auf Rachſucht des Siegers und — wie die Miſſionäre ſagen — auf „Verirrung des Appetites“. Der Sieg über eine feindliche Horde wird durch ein Mahl gefeiert, wobei der Leichnam eines Gefangenen zum Teil ver- zehrt wird. Ein andermal überfällt man bei Nacht eine wehrloſe Familie oder tötet einen Feind, auf den man zufällig im Walde ſtößt, mit einem vergifteten Pfeil. Der Leichnam wird zerſtückt und als Trophäe nach Hauſe getragen. Erſt die Kultur hat dem Menſchen die Einheit des Menſchen- geſchlechtes zum Bewußtſein gebracht und ihm offenbart, daß ihn auch mit Weſen, deren Sprache und Sitten ihm fremd ſind, ein Band der Blutsverwandtſchaft verbindet. Die Wil- den kennen nur ihre Familie, und ein Stamm erſcheint ihnen nur als ein größerer Verwandtſchaftskreis. Kommen Indianer, die ſie nicht kennen, aus dem Walde in die Miſſion, ſo brauchen ſie einen Ausdruck, deſſen naive Einfalt mir oft aufgefallen iſt: „Gewiß ſind dies Verwandte von mir, denn ich verſtehe ſie, wenn ſie mit mir ſprechen.“ Die Wilden verabſcheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerſchaft, mit der ſie im Kriege leben, jagen ſie, wie wir das Wild. Die Pflichten gegen Familie und Verwandtſchaft ſind ihnen wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten der Menſchlichkeit, die auf dem Bewußtſein beruhen, daß alle Weſen, die ge- ſchaffen ſind wie wir, ein Band umſchlingt. Keine Regung von Mitleid hält ſie ab, Weiber oder Kinder eines feindlichen Stammes ums Leben zu bringen. Letztere werden bei den Mahlzeiten nach einem Gefecht oder einem Ueberfall vorzugs- weiſe verzehrt. Der Haß der Wilden faſt gegen alle Menſchen, die eine andere Sprache reden und ihnen als Barbaren von nied- rigerer Raſſe als ſie ſelbſt erſcheinen, bricht in den Miſſionen 1 Eine Hütte auf einem angebauten Grundſtücke, eine Art Landhaus, wo ſich die Eingeborenen lieber aufhalten als in den Miſſionen.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/22>, abgerufen am 23.11.2024.