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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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von 382 und 900 km nur um wenige Fuß fallen können.
Dieser Beweis erscheint aber durchaus nicht als stichhaltig,
wenn man bedenkt, daß die Stärke der sich fortpflanzenden
Schwankungen im Niveau von vielen örtlichen Umständen
abhängig ist, von der Form, den Krümmungen und der Zahl
der ineinander mündenden Kanäle, vom Widerstande des
Grundes, auf dem die Flutwelle heraufkommt, vom Abprallen
des Wassers an den gegenüberliegenden Ufern und von der
Einschnürung des Stromes in einen Engpaß. Ein gewandter
Ingenieur, Bremontier, hat in neuester Zeit dargethan, daß
im Bette der Garonne die Flutwellen wie auf einer geneigten
Ebene weit über das Niveau der See an der Mündung des
Flusses hinaufgehen. Im Orinoko kommen die ungleich hohen
Fluten von Punta Barima und vom Golfo triste in un-
gleichen Intervallen durch die große Wasserstraße der Boca
de Navios und durch die engen, gewundenen, zahlreichen
Bocas chicas herauf. Da diese kleinen Kanäle am selben
Punkte, bei San Rafael, vom Hauptstamme abgehen, so wäre
es von Interesse, die Verzögerung des Eintrittes der Flut
und die Fortpflanzung der Flutwellen im Bette des Orinoko
oberhalb und unterhalb San Rafael, auf der See bei Kap
Barima und im Golfo triste bei der Boca Manamo zu beob-
achten. Die Wasserbaukunst und die Theorie der Bewegung
von Flüssigkeiten in engen Kanälen müßten beide Nutzen aus
einer Arbeit ziehen, für welche der Orinoko und der Amazonen-
strom besonders günstige Gelegenheit böten.

Bei der Fahrt auf dem Flusse, ob nun die Schiffe durch
die Boca de Navios einlaufen oder sich durch das Labyrinth
der Bocas chicas wagen, sind besondere Vorsichtsmaßregeln
erforderlich, je nachdem das Bett voll oder der Wasserstand
sehr tief ist. Die Regelmäßigkeit, mit der der Orinoko zu
bestimmten Zeiten anschwillt, war von jeher für die Reisen-
den ein Gegenstand der Verwunderung, wie ja auch das Aus-
treten des Nils für die Philosophen des Altertums ein
schwer zu lösendes Problem war. Der Orinoko und der
Nil laufen, der Richtung des Ganges, Indus, Rio de la
Plata und Euphrat entgegen, von Süd nach Nord; aber die
Quellen des Orinoko liegen um 5 bis 6° näher am Aequator
als die des Nil. Da uns die zufälligen Wechsel im Luft-
kreise täglich so stark auffallen, wird uns die Anschauung
schwer, daß in großen Zeiträumen die Wirkungen dieses
Wechsels sich gegenseitig ausgleichen sollen, daß in einer

von 382 und 900 km nur um wenige Fuß fallen können.
Dieſer Beweis erſcheint aber durchaus nicht als ſtichhaltig,
wenn man bedenkt, daß die Stärke der ſich fortpflanzenden
Schwankungen im Niveau von vielen örtlichen Umſtänden
abhängig iſt, von der Form, den Krümmungen und der Zahl
der ineinander mündenden Kanäle, vom Widerſtande des
Grundes, auf dem die Flutwelle heraufkommt, vom Abprallen
des Waſſers an den gegenüberliegenden Ufern und von der
Einſchnürung des Stromes in einen Engpaß. Ein gewandter
Ingenieur, Bremontier, hat in neueſter Zeit dargethan, daß
im Bette der Garonne die Flutwellen wie auf einer geneigten
Ebene weit über das Niveau der See an der Mündung des
Fluſſes hinaufgehen. Im Orinoko kommen die ungleich hohen
Fluten von Punta Barima und vom Golfo triste in un-
gleichen Intervallen durch die große Waſſerſtraße der Boca
de Navios und durch die engen, gewundenen, zahlreichen
Bocas chicas herauf. Da dieſe kleinen Kanäle am ſelben
Punkte, bei San Rafael, vom Hauptſtamme abgehen, ſo wäre
es von Intereſſe, die Verzögerung des Eintrittes der Flut
und die Fortpflanzung der Flutwellen im Bette des Orinoko
oberhalb und unterhalb San Rafael, auf der See bei Kap
Barima und im Golfo triste bei der Boca Manamo zu beob-
achten. Die Waſſerbaukunſt und die Theorie der Bewegung
von Flüſſigkeiten in engen Kanälen müßten beide Nutzen aus
einer Arbeit ziehen, für welche der Orinoko und der Amazonen-
ſtrom beſonders günſtige Gelegenheit böten.

Bei der Fahrt auf dem Fluſſe, ob nun die Schiffe durch
die Boca de Navios einlaufen oder ſich durch das Labyrinth
der Bocas chicas wagen, ſind beſondere Vorſichtsmaßregeln
erforderlich, je nachdem das Bett voll oder der Waſſerſtand
ſehr tief iſt. Die Regelmäßigkeit, mit der der Orinoko zu
beſtimmten Zeiten anſchwillt, war von jeher für die Reiſen-
den ein Gegenſtand der Verwunderung, wie ja auch das Aus-
treten des Nils für die Philoſophen des Altertums ein
ſchwer zu löſendes Problem war. Der Orinoko und der
Nil laufen, der Richtung des Ganges, Indus, Rio de la
Plata und Euphrat entgegen, von Süd nach Nord; aber die
Quellen des Orinoko liegen um 5 bis 6° näher am Aequator
als die des Nil. Da uns die zufälligen Wechſel im Luft-
kreiſe täglich ſo ſtark auffallen, wird uns die Anſchauung
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[170/0178] von 382 und 900 km nur um wenige Fuß fallen können. Dieſer Beweis erſcheint aber durchaus nicht als ſtichhaltig, wenn man bedenkt, daß die Stärke der ſich fortpflanzenden Schwankungen im Niveau von vielen örtlichen Umſtänden abhängig iſt, von der Form, den Krümmungen und der Zahl der ineinander mündenden Kanäle, vom Widerſtande des Grundes, auf dem die Flutwelle heraufkommt, vom Abprallen des Waſſers an den gegenüberliegenden Ufern und von der Einſchnürung des Stromes in einen Engpaß. Ein gewandter Ingenieur, Bremontier, hat in neueſter Zeit dargethan, daß im Bette der Garonne die Flutwellen wie auf einer geneigten Ebene weit über das Niveau der See an der Mündung des Fluſſes hinaufgehen. Im Orinoko kommen die ungleich hohen Fluten von Punta Barima und vom Golfo triste in un- gleichen Intervallen durch die große Waſſerſtraße der Boca de Navios und durch die engen, gewundenen, zahlreichen Bocas chicas herauf. Da dieſe kleinen Kanäle am ſelben Punkte, bei San Rafael, vom Hauptſtamme abgehen, ſo wäre es von Intereſſe, die Verzögerung des Eintrittes der Flut und die Fortpflanzung der Flutwellen im Bette des Orinoko oberhalb und unterhalb San Rafael, auf der See bei Kap Barima und im Golfo triste bei der Boca Manamo zu beob- achten. Die Waſſerbaukunſt und die Theorie der Bewegung von Flüſſigkeiten in engen Kanälen müßten beide Nutzen aus einer Arbeit ziehen, für welche der Orinoko und der Amazonen- ſtrom beſonders günſtige Gelegenheit böten. Bei der Fahrt auf dem Fluſſe, ob nun die Schiffe durch die Boca de Navios einlaufen oder ſich durch das Labyrinth der Bocas chicas wagen, ſind beſondere Vorſichtsmaßregeln erforderlich, je nachdem das Bett voll oder der Waſſerſtand ſehr tief iſt. Die Regelmäßigkeit, mit der der Orinoko zu beſtimmten Zeiten anſchwillt, war von jeher für die Reiſen- den ein Gegenſtand der Verwunderung, wie ja auch das Aus- treten des Nils für die Philoſophen des Altertums ein ſchwer zu löſendes Problem war. Der Orinoko und der Nil laufen, der Richtung des Ganges, Indus, Rio de la Plata und Euphrat entgegen, von Süd nach Nord; aber die Quellen des Orinoko liegen um 5 bis 6° näher am Aequator als die des Nil. Da uns die zufälligen Wechſel im Luft- kreiſe täglich ſo ſtark auffallen, wird uns die Anſchauung ſchwer, daß in großen Zeiträumen die Wirkungen dieſes Wechſels ſich gegenſeitig ausgleichen ſollen, daß in einer

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/178>, abgerufen am 22.11.2024.