Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

metrischem Wege die Meridianunterschiede zwischen Puerto
Espanna und den kleinen Mündungen des Orinoko, zwischen
San Rafael (der Spitze des Deltas) und Santo Tome de
Angostura bestimmt werden.

Die ganze Ostküste von Südamerika vom Kap San
Roque, und besonders vom Hafen von Maranham bis zum
Gebirgsstock von Paria ist so niedrig, daß, nach meiner An-
sicht, das Delta des Orinoko und seine Bodenbildung nicht
wohl den Anschwemmungen eines Stromes zugeschrieben
werden kann. Ich will nach der Aussage der Alten nicht in
Abrede ziehen, daß das Nildelta einst ein Busen des Mittel-
meers war, der allmählich durch Anschwemmung ausgefüllt
wurde. Es begreift sich leicht, daß sich an der Mündung
aller großen Ströme da, wo die Geschwindigkeit der Strö-
mung rasch abnimmt, eine Bank, ein Eiland bildet, daß sich
Material absetzt, das nicht weiter geschwemmt werden kann.
Es ist ebenso begreiflich, daß der Fluß, da er um diese Bank
herum muß, sich in zwei Arme spaltet, und daß die An-
schwemmungen, da sie an der Spitze des Deltas einen Stütz-
punkt finden, sich immer weiter ausbreiten, während die Fluß-
arme auseinander weichen. Der Vorgang bei der ersten
Gabelung wiederholt sich bei jedem einzelnen Stromstücke, so
daß die Natur durch denselben Prozeß ein Labyrinth kleiner ge-
gabelter Kanäle hervorbringen kann, die sich im Laufe der
Jahrhunderte, je nach der Stärke und der Richtung der Hoch-
gewässer, ausfüllen oder vertiefen. Auf diese Weise hat sich
unzweifelhaft der Hauptstamm des Orinoko 112 km westwärts
von der Boca de Navios in zwei Arme, den von Zacupana
und den von Imataca, geteilt. Das Netz kleinerer Zweige
dagegen, die gegen Nord vom Flusse abgehen und deren Mün-
dungen Bocas chicas (die kleinen Mündungen) heißen, scheint
mir eine Erscheinung, die ganz mit der Bildung der Delta
von Nebenflüssen
übereinkommt. Wenn mehrere hundert
Kilometer von der Küste ein Fluß (z. B. der Apure oder
Jupura) sich mittels einer Menge von Zweigen mit einem
anderen Flusse verbindet, so sind diese mannigfachen Gabelungen
nur Rinnen in einem völlig ebenen Boden. Ebenso verhält es
sich mit den ozeanischen Delta überall, wo bei allgemeinen
Ueberflutungen in Zeiten, bevor Orinoko und Amazonenstrom
bestanden, die Küsten mit erdigen Niederschlägen bedeckt wur-
den. Ich bezweifle, daß alle ozeanischen Delta einst Meer-
busen, oder, wie einige neuere Geographen sich ausdrücken,

metriſchem Wege die Meridianunterſchiede zwiſchen Puerto
Eſpaña und den kleinen Mündungen des Orinoko, zwiſchen
San Rafael (der Spitze des Deltas) und Santo Tome de
Angoſtura beſtimmt werden.

Die ganze Oſtküſte von Südamerika vom Kap San
Roque, und beſonders vom Hafen von Maranham bis zum
Gebirgsſtock von Paria iſt ſo niedrig, daß, nach meiner An-
ſicht, das Delta des Orinoko und ſeine Bodenbildung nicht
wohl den Anſchwemmungen eines Stromes zugeſchrieben
werden kann. Ich will nach der Ausſage der Alten nicht in
Abrede ziehen, daß das Nildelta einſt ein Buſen des Mittel-
meers war, der allmählich durch Anſchwemmung ausgefüllt
wurde. Es begreift ſich leicht, daß ſich an der Mündung
aller großen Ströme da, wo die Geſchwindigkeit der Strö-
mung raſch abnimmt, eine Bank, ein Eiland bildet, daß ſich
Material abſetzt, das nicht weiter geſchwemmt werden kann.
Es iſt ebenſo begreiflich, daß der Fluß, da er um dieſe Bank
herum muß, ſich in zwei Arme ſpaltet, und daß die An-
ſchwemmungen, da ſie an der Spitze des Deltas einen Stütz-
punkt finden, ſich immer weiter ausbreiten, während die Fluß-
arme auseinander weichen. Der Vorgang bei der erſten
Gabelung wiederholt ſich bei jedem einzelnen Stromſtücke, ſo
daß die Natur durch denſelben Prozeß ein Labyrinth kleiner ge-
gabelter Kanäle hervorbringen kann, die ſich im Laufe der
Jahrhunderte, je nach der Stärke und der Richtung der Hoch-
gewäſſer, ausfüllen oder vertiefen. Auf dieſe Weiſe hat ſich
unzweifelhaft der Hauptſtamm des Orinoko 112 km weſtwärts
von der Boca de Navios in zwei Arme, den von Zacupana
und den von Imataca, geteilt. Das Netz kleinerer Zweige
dagegen, die gegen Nord vom Fluſſe abgehen und deren Mün-
dungen Bocas chicas (die kleinen Mündungen) heißen, ſcheint
mir eine Erſcheinung, die ganz mit der Bildung der Delta
von Nebenflüſſen
übereinkommt. Wenn mehrere hundert
Kilometer von der Küſte ein Fluß (z. B. der Apure oder
Jupura) ſich mittels einer Menge von Zweigen mit einem
anderen Fluſſe verbindet, ſo ſind dieſe mannigfachen Gabelungen
nur Rinnen in einem völlig ebenen Boden. Ebenſo verhält es
ſich mit den ozeaniſchen Delta überall, wo bei allgemeinen
Ueberflutungen in Zeiten, bevor Orinoko und Amazonenſtrom
beſtanden, die Küſten mit erdigen Niederſchlägen bedeckt wur-
den. Ich bezweifle, daß alle ozeaniſchen Delta einſt Meer-
buſen, oder, wie einige neuere Geographen ſich ausdrücken,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0171" n="163"/>
metri&#x017F;chem Wege die Meridianunter&#x017F;chiede zwi&#x017F;chen Puerto<lb/>
E&#x017F;paña und den kleinen Mündungen des Orinoko, zwi&#x017F;chen<lb/>
San Rafael (der Spitze des Deltas) und Santo Tome de<lb/>
Ango&#x017F;tura be&#x017F;timmt werden.</p><lb/>
          <p>Die ganze O&#x017F;tkü&#x017F;te von Südamerika vom Kap San<lb/>
Roque, und be&#x017F;onders vom Hafen von Maranham bis zum<lb/>
Gebirgs&#x017F;tock von Paria i&#x017F;t &#x017F;o niedrig, daß, nach meiner An-<lb/>
&#x017F;icht, das Delta des Orinoko und &#x017F;eine Bodenbildung nicht<lb/>
wohl den An&#x017F;chwemmungen <hi rendition="#g">eines</hi> Stromes zuge&#x017F;chrieben<lb/>
werden kann. Ich will nach der Aus&#x017F;age der Alten nicht in<lb/>
Abrede ziehen, daß das Nildelta ein&#x017F;t ein Bu&#x017F;en des Mittel-<lb/>
meers war, der allmählich durch An&#x017F;chwemmung ausgefüllt<lb/>
wurde. Es begreift &#x017F;ich leicht, daß &#x017F;ich an der Mündung<lb/>
aller großen Ströme da, wo die Ge&#x017F;chwindigkeit der Strö-<lb/>
mung ra&#x017F;ch abnimmt, eine Bank, ein Eiland bildet, daß &#x017F;ich<lb/>
Material ab&#x017F;etzt, das nicht weiter ge&#x017F;chwemmt werden kann.<lb/>
Es i&#x017F;t eben&#x017F;o begreiflich, daß der Fluß, da er um die&#x017F;e Bank<lb/>
herum muß, &#x017F;ich in zwei Arme &#x017F;paltet, und daß die An-<lb/>
&#x017F;chwemmungen, da &#x017F;ie an der Spitze des Deltas einen Stütz-<lb/>
punkt finden, &#x017F;ich immer weiter ausbreiten, während die Fluß-<lb/>
arme auseinander weichen. Der Vorgang bei der er&#x017F;ten<lb/>
Gabelung wiederholt &#x017F;ich bei jedem einzelnen Strom&#x017F;tücke, &#x017F;o<lb/>
daß die Natur durch den&#x017F;elben Prozeß ein Labyrinth kleiner ge-<lb/>
gabelter Kanäle hervorbringen kann, die &#x017F;ich im Laufe der<lb/>
Jahrhunderte, je nach der Stärke und der Richtung der Hoch-<lb/>
gewä&#x017F;&#x017F;er, ausfüllen oder vertiefen. Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e hat &#x017F;ich<lb/>
unzweifelhaft der Haupt&#x017F;tamm des Orinoko 112 <hi rendition="#aq">km</hi> we&#x017F;twärts<lb/>
von der Boca de Navios in zwei Arme, den von Zacupana<lb/>
und den von Imataca, geteilt. Das Netz kleinerer Zweige<lb/>
dagegen, die gegen Nord vom Flu&#x017F;&#x017F;e abgehen und deren Mün-<lb/>
dungen <hi rendition="#aq">Bocas chicas</hi> (die kleinen Mündungen) heißen, &#x017F;cheint<lb/>
mir eine Er&#x017F;cheinung, die ganz mit der Bildung der <hi rendition="#g">Delta<lb/>
von Nebenflü&#x017F;&#x017F;en</hi> übereinkommt. Wenn mehrere hundert<lb/>
Kilometer von der Kü&#x017F;te ein Fluß (z. B. der Apure oder<lb/>
Jupura) &#x017F;ich mittels einer Menge von Zweigen mit einem<lb/>
anderen Flu&#x017F;&#x017F;e verbindet, &#x017F;o &#x017F;ind die&#x017F;e mannigfachen Gabelungen<lb/>
nur Rinnen in einem völlig ebenen Boden. Eben&#x017F;o verhält es<lb/>
&#x017F;ich mit den <hi rendition="#g">ozeani&#x017F;chen</hi> Delta überall, wo bei allgemeinen<lb/>
Ueberflutungen in Zeiten, bevor Orinoko und Amazonen&#x017F;trom<lb/>
be&#x017F;tanden, die Kü&#x017F;ten mit erdigen Nieder&#x017F;chlägen bedeckt wur-<lb/>
den. Ich bezweifle, daß alle ozeani&#x017F;chen Delta ein&#x017F;t Meer-<lb/>
bu&#x017F;en, oder, wie einige neuere Geographen &#x017F;ich ausdrücken,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0171] metriſchem Wege die Meridianunterſchiede zwiſchen Puerto Eſpaña und den kleinen Mündungen des Orinoko, zwiſchen San Rafael (der Spitze des Deltas) und Santo Tome de Angoſtura beſtimmt werden. Die ganze Oſtküſte von Südamerika vom Kap San Roque, und beſonders vom Hafen von Maranham bis zum Gebirgsſtock von Paria iſt ſo niedrig, daß, nach meiner An- ſicht, das Delta des Orinoko und ſeine Bodenbildung nicht wohl den Anſchwemmungen eines Stromes zugeſchrieben werden kann. Ich will nach der Ausſage der Alten nicht in Abrede ziehen, daß das Nildelta einſt ein Buſen des Mittel- meers war, der allmählich durch Anſchwemmung ausgefüllt wurde. Es begreift ſich leicht, daß ſich an der Mündung aller großen Ströme da, wo die Geſchwindigkeit der Strö- mung raſch abnimmt, eine Bank, ein Eiland bildet, daß ſich Material abſetzt, das nicht weiter geſchwemmt werden kann. Es iſt ebenſo begreiflich, daß der Fluß, da er um dieſe Bank herum muß, ſich in zwei Arme ſpaltet, und daß die An- ſchwemmungen, da ſie an der Spitze des Deltas einen Stütz- punkt finden, ſich immer weiter ausbreiten, während die Fluß- arme auseinander weichen. Der Vorgang bei der erſten Gabelung wiederholt ſich bei jedem einzelnen Stromſtücke, ſo daß die Natur durch denſelben Prozeß ein Labyrinth kleiner ge- gabelter Kanäle hervorbringen kann, die ſich im Laufe der Jahrhunderte, je nach der Stärke und der Richtung der Hoch- gewäſſer, ausfüllen oder vertiefen. Auf dieſe Weiſe hat ſich unzweifelhaft der Hauptſtamm des Orinoko 112 km weſtwärts von der Boca de Navios in zwei Arme, den von Zacupana und den von Imataca, geteilt. Das Netz kleinerer Zweige dagegen, die gegen Nord vom Fluſſe abgehen und deren Mün- dungen Bocas chicas (die kleinen Mündungen) heißen, ſcheint mir eine Erſcheinung, die ganz mit der Bildung der Delta von Nebenflüſſen übereinkommt. Wenn mehrere hundert Kilometer von der Küſte ein Fluß (z. B. der Apure oder Jupura) ſich mittels einer Menge von Zweigen mit einem anderen Fluſſe verbindet, ſo ſind dieſe mannigfachen Gabelungen nur Rinnen in einem völlig ebenen Boden. Ebenſo verhält es ſich mit den ozeaniſchen Delta überall, wo bei allgemeinen Ueberflutungen in Zeiten, bevor Orinoko und Amazonenſtrom beſtanden, die Küſten mit erdigen Niederſchlägen bedeckt wur- den. Ich bezweifle, daß alle ozeaniſchen Delta einſt Meer- buſen, oder, wie einige neuere Geographen ſich ausdrücken,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/171
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/171>, abgerufen am 04.05.2024.