Linie ab, um zu bestimmen, wie viel Zeit schwimmende Körper brauchten, um eine bekannte Strecke zurückzulegen. Oberhalb Alta Gracia, beim Einfluß des Rio Ujape, hatte ich 74 cm in der Sekunde gefunden; zwischen Muitaco und Borbon war die Geschwindigkeit nur noch 54 cm. Aus den barometrischen Messungen in den benachbarten Steppen geht hervor, um wie wenig der Boden vom 69. Grade der Länge bis zur Ostküste von Guyana fällt. Muitaco war der letzte Ort, wo wir am Ufer des Orinoko die Nacht unter freiem Himmel zubrachten; wir fuhren noch zwei Nächte durch, ehe wir unser Reiseziel, Angostura, erreichten. Eine solche Fahrt auf dem Thalweg eines großen Stroms ist ungemein bequem: man hat nichts zu fürchten außer den natürlichen Flößen aus Bäumen, die der Fluß, wenn er austritt, von den Ufern abreißt. In dun- keln Nächten scheitern die Pirogen an diesen schwimmenden Eilanden wie an Sandbänken.
Nur schwer vermöchte ich das angenehme Gefühl zu schildern, mit dem wir in Angostura, der Hauptstadt von Spa- nisch-Guyana, das Land betraten. Die Beschwerden, denen man in kleinen Fahrzeugen zur See unterworfen ist, sind nichts gegen das, was man auszustehen hat, wenn man unter einem glühenden Himmel, in einem Schwarm von Moskiten, monatelang in einer Piroge liegen muß, in der man sich wegen ihrer Unstätigkeit gar keine Bewegung machen kann. Wir hatten in 75 Tagen auf den fünf großen Flüssen Apure, Orinoko, Atabapo, Rio Negro und Cassiquiare 2250 km zu- rückgelegt, und auf dieser ungeheuren Strecke nur sehr wenige Orte angetroffen. Obgleich nach unserem Leben in den Wäl- dern unser Anzug nichts weniger als gewählt war, säumten wir doch nicht, uns Don Felipe de Ynciarte, dem Statthalter der Provinz Guyana, vorzustellen. Er nahm uns auf das zuvorkommendste auf und wies uns beim Sekretär der In- tendanz unsere Wohnung an. Da wir aus fast menschen- leeren Ländern kamen, fiel uns das Treiben in einer Stadt, die keine 6000 Einwohner hat, ungemein auf. Wir staunten an, was Gewerbfleiß und Handel dem civilisierten Menschen an Bequemlichkeit bieten; bescheidene Wohnräume kamen uns prachtvoll vor, wer uns anredete, erschien uns geistreich. Nach langer Entbehrung gewähren Kleinigkeiten hohen Genuß, und mit unbeschreiblicher Freude sahen wir zum erstenmal wieder Weizenbrot auf der Tafel des Statthalters. Vielleicht brauchte ich nicht bei Empfindungen zu verweilen, die jedem, der weite
Linie ab, um zu beſtimmen, wie viel Zeit ſchwimmende Körper brauchten, um eine bekannte Strecke zurückzulegen. Oberhalb Alta Gracia, beim Einfluß des Rio Ujape, hatte ich 74 cm in der Sekunde gefunden; zwiſchen Muitaco und Borbon war die Geſchwindigkeit nur noch 54 cm. Aus den barometriſchen Meſſungen in den benachbarten Steppen geht hervor, um wie wenig der Boden vom 69. Grade der Länge bis zur Oſtküſte von Guyana fällt. Muitaco war der letzte Ort, wo wir am Ufer des Orinoko die Nacht unter freiem Himmel zubrachten; wir fuhren noch zwei Nächte durch, ehe wir unſer Reiſeziel, Angoſtura, erreichten. Eine ſolche Fahrt auf dem Thalweg eines großen Stroms iſt ungemein bequem: man hat nichts zu fürchten außer den natürlichen Flößen aus Bäumen, die der Fluß, wenn er austritt, von den Ufern abreißt. In dun- keln Nächten ſcheitern die Pirogen an dieſen ſchwimmenden Eilanden wie an Sandbänken.
Nur ſchwer vermöchte ich das angenehme Gefühl zu ſchildern, mit dem wir in Angoſtura, der Hauptſtadt von Spa- niſch-Guyana, das Land betraten. Die Beſchwerden, denen man in kleinen Fahrzeugen zur See unterworfen iſt, ſind nichts gegen das, was man auszuſtehen hat, wenn man unter einem glühenden Himmel, in einem Schwarm von Moskiten, monatelang in einer Piroge liegen muß, in der man ſich wegen ihrer Unſtätigkeit gar keine Bewegung machen kann. Wir hatten in 75 Tagen auf den fünf großen Flüſſen Apure, Orinoko, Atabapo, Rio Negro und Caſſiquiare 2250 km zu- rückgelegt, und auf dieſer ungeheuren Strecke nur ſehr wenige Orte angetroffen. Obgleich nach unſerem Leben in den Wäl- dern unſer Anzug nichts weniger als gewählt war, ſäumten wir doch nicht, uns Don Felipe de Ynciarte, dem Statthalter der Provinz Guyana, vorzuſtellen. Er nahm uns auf das zuvorkommendſte auf und wies uns beim Sekretär der In- tendanz unſere Wohnung an. Da wir aus faſt menſchen- leeren Ländern kamen, fiel uns das Treiben in einer Stadt, die keine 6000 Einwohner hat, ungemein auf. Wir ſtaunten an, was Gewerbfleiß und Handel dem civiliſierten Menſchen an Bequemlichkeit bieten; beſcheidene Wohnräume kamen uns prachtvoll vor, wer uns anredete, erſchien uns geiſtreich. Nach langer Entbehrung gewähren Kleinigkeiten hohen Genuß, und mit unbeſchreiblicher Freude ſahen wir zum erſtenmal wieder Weizenbrot auf der Tafel des Statthalters. Vielleicht brauchte ich nicht bei Empfindungen zu verweilen, die jedem, der weite
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Linie ab, um zu beſtimmen, wie viel Zeit ſchwimmende Körper
brauchten, um eine bekannte Strecke zurückzulegen. Oberhalb
Alta Gracia, beim Einfluß des Rio Ujape, hatte ich 74 cm
in der Sekunde gefunden; zwiſchen Muitaco und Borbon war
die Geſchwindigkeit nur noch 54 cm. Aus den barometriſchen
Meſſungen in den benachbarten Steppen geht hervor, um wie
wenig der Boden vom 69. Grade der Länge bis zur Oſtküſte
von Guyana fällt. Muitaco war der letzte Ort, wo wir am
Ufer des Orinoko die Nacht unter freiem Himmel zubrachten;
wir fuhren noch zwei Nächte durch, ehe wir unſer Reiſeziel,
Angoſtura, erreichten. Eine ſolche Fahrt auf dem Thalweg
eines großen Stroms iſt ungemein bequem: man hat nichts
zu fürchten außer den natürlichen Flößen aus Bäumen, die
der Fluß, wenn er austritt, von den Ufern abreißt. In dun-
keln Nächten ſcheitern die Pirogen an dieſen ſchwimmenden
Eilanden wie an Sandbänken.
Nur ſchwer vermöchte ich das angenehme Gefühl zu
ſchildern, mit dem wir in Angoſtura, der Hauptſtadt von Spa-
niſch-Guyana, das Land betraten. Die Beſchwerden, denen
man in kleinen Fahrzeugen zur See unterworfen iſt, ſind
nichts gegen das, was man auszuſtehen hat, wenn man unter
einem glühenden Himmel, in einem Schwarm von Moskiten,
monatelang in einer Piroge liegen muß, in der man ſich
wegen ihrer Unſtätigkeit gar keine Bewegung machen kann.
Wir hatten in 75 Tagen auf den fünf großen Flüſſen Apure,
Orinoko, Atabapo, Rio Negro und Caſſiquiare 2250 km zu-
rückgelegt, und auf dieſer ungeheuren Strecke nur ſehr wenige
Orte angetroffen. Obgleich nach unſerem Leben in den Wäl-
dern unſer Anzug nichts weniger als gewählt war, ſäumten
wir doch nicht, uns Don Felipe de Ynciarte, dem Statthalter
der Provinz Guyana, vorzuſtellen. Er nahm uns auf das
zuvorkommendſte auf und wies uns beim Sekretär der In-
tendanz unſere Wohnung an. Da wir aus faſt menſchen-
leeren Ländern kamen, fiel uns das Treiben in einer Stadt,
die keine 6000 Einwohner hat, ungemein auf. Wir ſtaunten
an, was Gewerbfleiß und Handel dem civiliſierten Menſchen
an Bequemlichkeit bieten; beſcheidene Wohnräume kamen uns
prachtvoll vor, wer uns anredete, erſchien uns geiſtreich. Nach
langer Entbehrung gewähren Kleinigkeiten hohen Genuß, und
mit unbeſchreiblicher Freude ſahen wir zum erſtenmal wieder
Weizenbrot auf der Tafel des Statthalters. Vielleicht brauchte
ich nicht bei Empfindungen zu verweilen, die jedem, der weite
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/156>, abgerufen am 03.05.2024.
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