Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

an den Mäuseturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert.
Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art
Drosera auf, die ganz den Habitus der europäischen Drosera
hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich gestiegen,
und die bedeutend beschleunigte Strömung trug uns in zehn
Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen
Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge-
legte Weg betrug 58,5 km. Mit Interesse erinnerten wir
uns der Orte, wo wir stromaufwärts übernachtet; wir trafen
Indianer wieder, die uns beim Botanisieren begleitet, und
wir besuchten nochmals die schöne Quelle, die hinter dem
Hause des Missionärs aus einem geschichteten Granitfelsen
kommt; ihre Temperatur hatte sich nicht um 0,3° verändert.
Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war
uns, als reisten wir in einem Lande, in dem wir lange ge-
wohnt. Wir lebten ebenso schmal, wir wurden von denselben
Mücken gestochen, aber die gewisse Aussicht, daß in wenigen
Wochen unsere physischen Leiden ein Ende hätten, hielt uns
aufrecht.

Der Transport der Piroge über den großen Katarakt
hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo
Zea, der Missionär bei den Raudales, der uns an den Rio
Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit seinen
Indianern vollends nach Atures führen. Einer derselben,
Zerepe, der Dolmetscher, den man auf dem Strande von
Pararuma so unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch seine
tiefe Niedergeschlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In-
dianerin verloren, mit der er verlobt gewesen, und zwar infolge
einer falschen Nachricht, die über die Richtung unserer Reise
in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren,
aber bei seinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde
erzogen. Er hatte in die Mission ein zwölfjähriges Mädchen
mitgebracht, das er nach unserer Rückkehr zu den Katarakten
zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Missionen
behagte der jungen Indianerin schlecht, denn man hatte ihr
gesagt, die Weißen gehen ins Land der Portugiesen (nach
Brasilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging,
wie sie gehofft, bemächtigte sie sich eines Kanoe, fuhr mit
einem anderen Mädchen vom selben Alter durch den Raudal
und lief al monte zu den Ihrigen. Dieser kecke Streich
war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeschlagenheit hielt
übrigens nicht lange an. Er war unter Christen geboren,

an den Mäuſeturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert.
Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art
Droſera auf, die ganz den Habitus der europäiſchen Droſera
hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich geſtiegen,
und die bedeutend beſchleunigte Strömung trug uns in zehn
Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen
Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge-
legte Weg betrug 58,5 km. Mit Intereſſe erinnerten wir
uns der Orte, wo wir ſtromaufwärts übernachtet; wir trafen
Indianer wieder, die uns beim Botaniſieren begleitet, und
wir beſuchten nochmals die ſchöne Quelle, die hinter dem
Hauſe des Miſſionärs aus einem geſchichteten Granitfelſen
kommt; ihre Temperatur hatte ſich nicht um 0,3° verändert.
Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war
uns, als reiſten wir in einem Lande, in dem wir lange ge-
wohnt. Wir lebten ebenſo ſchmal, wir wurden von denſelben
Mücken geſtochen, aber die gewiſſe Ausſicht, daß in wenigen
Wochen unſere phyſiſchen Leiden ein Ende hätten, hielt uns
aufrecht.

Der Transport der Piroge über den großen Katarakt
hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo
Zea, der Miſſionär bei den Raudales, der uns an den Rio
Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit ſeinen
Indianern vollends nach Atures führen. Einer derſelben,
Zerepe, der Dolmetſcher, den man auf dem Strande von
Pararuma ſo unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch ſeine
tiefe Niedergeſchlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In-
dianerin verloren, mit der er verlobt geweſen, und zwar infolge
einer falſchen Nachricht, die über die Richtung unſerer Reiſe
in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren,
aber bei ſeinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde
erzogen. Er hatte in die Miſſion ein zwölfjähriges Mädchen
mitgebracht, das er nach unſerer Rückkehr zu den Katarakten
zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Miſſionen
behagte der jungen Indianerin ſchlecht, denn man hatte ihr
geſagt, die Weißen gehen ins Land der Portugieſen (nach
Braſilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging,
wie ſie gehofft, bemächtigte ſie ſich eines Kanoe, fuhr mit
einem anderen Mädchen vom ſelben Alter durch den Raudal
und lief al monte zu den Ihrigen. Dieſer kecke Streich
war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeſchlagenheit hielt
übrigens nicht lange an. Er war unter Chriſten geboren,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0117" n="109"/>
an den Mäu&#x017F;eturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert.<lb/>
Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art<lb/>
Dro&#x017F;era auf, die ganz den Habitus der europäi&#x017F;chen Dro&#x017F;era<lb/>
hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich ge&#x017F;tiegen,<lb/>
und die bedeutend be&#x017F;chleunigte Strömung trug uns in zehn<lb/>
Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen<lb/>
Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge-<lb/>
legte Weg betrug 58,5 <hi rendition="#aq">km.</hi> Mit Intere&#x017F;&#x017F;e erinnerten wir<lb/>
uns der Orte, wo wir &#x017F;tromaufwärts übernachtet; wir trafen<lb/>
Indianer wieder, die uns beim Botani&#x017F;ieren begleitet, und<lb/>
wir be&#x017F;uchten nochmals die &#x017F;chöne Quelle, die hinter dem<lb/>
Hau&#x017F;e des Mi&#x017F;&#x017F;ionärs aus einem ge&#x017F;chichteten Granitfel&#x017F;en<lb/>
kommt; ihre Temperatur hatte &#x017F;ich nicht um 0,3° verändert.<lb/>
Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war<lb/>
uns, als rei&#x017F;ten wir in einem Lande, in dem wir lange ge-<lb/>
wohnt. Wir lebten eben&#x017F;o &#x017F;chmal, wir wurden von den&#x017F;elben<lb/>
Mücken ge&#x017F;tochen, aber die gewi&#x017F;&#x017F;e Aus&#x017F;icht, daß in wenigen<lb/>
Wochen un&#x017F;ere phy&#x017F;i&#x017F;chen Leiden ein Ende hätten, hielt uns<lb/>
aufrecht.</p><lb/>
          <p>Der Transport der Piroge über den großen Katarakt<lb/>
hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo<lb/>
Zea, der Mi&#x017F;&#x017F;ionär bei den Raudales, der uns an den Rio<lb/>
Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit &#x017F;einen<lb/>
Indianern vollends nach Atures führen. Einer der&#x017F;elben,<lb/><hi rendition="#g">Zerepe</hi>, der Dolmet&#x017F;cher, den man auf dem Strande von<lb/>
Pararuma &#x017F;o unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch &#x017F;eine<lb/>
tiefe Niederge&#x017F;chlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In-<lb/>
dianerin verloren, mit der er verlobt gewe&#x017F;en, und zwar infolge<lb/>
einer fal&#x017F;chen Nachricht, die über die Richtung un&#x017F;erer Rei&#x017F;e<lb/>
in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren,<lb/>
aber bei &#x017F;einen Eltern vom Stamme der Macos im Walde<lb/>
erzogen. Er hatte in die Mi&#x017F;&#x017F;ion ein zwölfjähriges Mädchen<lb/>
mitgebracht, das er nach un&#x017F;erer Rückkehr zu den Katarakten<lb/>
zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Mi&#x017F;&#x017F;ionen<lb/>
behagte der jungen Indianerin &#x017F;chlecht, denn man hatte ihr<lb/>
ge&#x017F;agt, die Weißen gehen ins Land der Portugie&#x017F;en (nach<lb/>
Bra&#x017F;ilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging,<lb/>
wie &#x017F;ie gehofft, bemächtigte &#x017F;ie &#x017F;ich eines Kanoe, fuhr mit<lb/>
einem anderen Mädchen vom &#x017F;elben Alter durch den Raudal<lb/>
und lief <hi rendition="#aq">al monte</hi> zu den Ihrigen. Die&#x017F;er kecke Streich<lb/>
war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niederge&#x017F;chlagenheit hielt<lb/>
übrigens nicht lange an. Er war unter Chri&#x017F;ten geboren,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0117] an den Mäuſeturm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert. Hier wie an den Ufern des Atabapo fiel uns eine kleine Art Droſera auf, die ganz den Habitus der europäiſchen Droſera hat. Der Orinoko war in der Nacht beträchtlich geſtiegen, und die bedeutend beſchleunigte Strömung trug uns in zehn Stunden von der Mündung des Mataveni zum oberen großen Katarakt, dem von Maypures oder Quituna; der zurückge- legte Weg betrug 58,5 km. Mit Intereſſe erinnerten wir uns der Orte, wo wir ſtromaufwärts übernachtet; wir trafen Indianer wieder, die uns beim Botaniſieren begleitet, und wir beſuchten nochmals die ſchöne Quelle, die hinter dem Hauſe des Miſſionärs aus einem geſchichteten Granitfelſen kommt; ihre Temperatur hatte ſich nicht um 0,3° verändert. Von der Mündung des Atabapo bis zu der des Apure war uns, als reiſten wir in einem Lande, in dem wir lange ge- wohnt. Wir lebten ebenſo ſchmal, wir wurden von denſelben Mücken geſtochen, aber die gewiſſe Ausſicht, daß in wenigen Wochen unſere phyſiſchen Leiden ein Ende hätten, hielt uns aufrecht. Der Transport der Piroge über den großen Katarakt hielt uns in Maypures zwei Tage auf. Pater Bernardo Zea, der Miſſionär bei den Raudales, der uns an den Rio Negro begleitet hatte, wollte, obgleich leidend, uns mit ſeinen Indianern vollends nach Atures führen. Einer derſelben, Zerepe, der Dolmetſcher, den man auf dem Strande von Pararuma ſo unbarmherzig geprügelt, fiel uns durch ſeine tiefe Niedergeſchlagenheit auf. Wir hörten, er habe die In- dianerin verloren, mit der er verlobt geweſen, und zwar infolge einer falſchen Nachricht, die über die Richtung unſerer Reiſe in Umlauf gekommen. Zerepe war in Maypures geboren, aber bei ſeinen Eltern vom Stamme der Macos im Walde erzogen. Er hatte in die Miſſion ein zwölfjähriges Mädchen mitgebracht, das er nach unſerer Rückkehr zu den Katarakten zum Weibe nehmen wollte. Das Leben in den Miſſionen behagte der jungen Indianerin ſchlecht, denn man hatte ihr geſagt, die Weißen gehen ins Land der Portugieſen (nach Braſilien) und nehmen Zerepe mit. Da es ihr nicht ging, wie ſie gehofft, bemächtigte ſie ſich eines Kanoe, fuhr mit einem anderen Mädchen vom ſelben Alter durch den Raudal und lief al monte zu den Ihrigen. Dieſer kecke Streich war die Tagesneuigkeit; Zerepes Niedergeſchlagenheit hielt übrigens nicht lange an. Er war unter Chriſten geboren,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/117
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/117>, abgerufen am 26.06.2024.