sie, dieses "andere Ufer" sei Europa, und einer fragte Pater Gili naiv, ob er dort drüben den großen Amalivaca ge- sehen habe, den Vater der Tamanaken, der auf die Felsen symbolische Figuren gezeichnet.
Diese Vorstellungen von einer großen Flut; das Paar, das sich auf einen Berggipfel flüchtet und Früchte der Mauritiapalme hinter sich wirft, um die Welt wieder zu bevölkern; dieser Nationalgott Amalivaca, der zu Wasser aus fernem Lande kommt, der Natur Gesetze vorschreibt und die Völker zwingt, ihr Wanderleben aufzugeben -- alle diese Züge eines uralten Glaubens verdienen alle Beachtung. Was die Tamanaken und die Stämme, die mit dem Tamanakischen verwandte Spra- chen haben, uns jetzt erzählen, ist ihnen ohne Zweifel von anderen Völkern überliefert, die vor ihnen dasselbe Land be- wohnt haben. Der Name Amalivaca ist über einen Land- strich von mehr als 100 000 qkm verbreitet; er kommt mit der Bedeutung Vater der Menschen (unser Urvater) selbst bei den karibischen Völkern vor, deren Sprache mit dem Tamanakischen nur verwandt ist wie das Deutsche mit dem Griechischen, dem Persischen und dem Sanskrit. Amalivaca ist ursprünglich nicht der große Geist, der Alte im Himmel, das unsichtbare Wesen, dessen Verehrung aus der Verehrung der Naturkräfte entspringt, wenn in den Völkern allmählich das Bewußtsein der Einheit dieser Kräfte erwacht; er ist vielmehr eine Person aus dem heroischen Zeitalter, ein Mann, der aus weiter Ferne gekommen, im Lande der Tamanaken und Kariben gelebt, symbolische Zeichen in die Felsen gegraben hat und wieder verschwunden ist, weil er sich zum Lande über dem Weltmeere, wo er früher gewohnt, wieder zurückwendet. Der Anthropomorphismus bei der Gestaltung der Gottheit hat zwei gerade entgegengesetzte Quellen, 1 und dieser Gegensatz scheint nicht sowohl auf dem verschiedenen Grade der Geistesbildung zu beruhen, als darauf, daß manche Völker von Natur mehr zur Mystik neigen, wäh- rend andere unter der Herrschaft der Sinne, der äußeren Eindrücke stehen. Bald läßt der Mensch die Gottheiten zur Erde niedersteigen und es über sich nehmen, die Völker zu regieren und ihnen Gesetze zu geben, wie in den Mythen des Orients; bald, wie bei den Griechen und anderen Völkern
1Creuzer, Symbolik III, 89.
ſie, dieſes „andere Ufer“ ſei Europa, und einer fragte Pater Gili naiv, ob er dort drüben den großen Amalivaca ge- ſehen habe, den Vater der Tamanaken, der auf die Felſen ſymboliſche Figuren gezeichnet.
Dieſe Vorſtellungen von einer großen Flut; das Paar, das ſich auf einen Berggipfel flüchtet und Früchte der Mauritiapalme hinter ſich wirft, um die Welt wieder zu bevölkern; dieſer Nationalgott Amalivaca, der zu Waſſer aus fernem Lande kommt, der Natur Geſetze vorſchreibt und die Völker zwingt, ihr Wanderleben aufzugeben — alle dieſe Züge eines uralten Glaubens verdienen alle Beachtung. Was die Tamanaken und die Stämme, die mit dem Tamanakiſchen verwandte Spra- chen haben, uns jetzt erzählen, iſt ihnen ohne Zweifel von anderen Völkern überliefert, die vor ihnen dasſelbe Land be- wohnt haben. Der Name Amalivaca iſt über einen Land- ſtrich von mehr als 100 000 qkm verbreitet; er kommt mit der Bedeutung Vater der Menſchen (unſer Urvater) ſelbſt bei den karibiſchen Völkern vor, deren Sprache mit dem Tamanakiſchen nur verwandt iſt wie das Deutſche mit dem Griechiſchen, dem Perſiſchen und dem Sanskrit. Amalivaca iſt urſprünglich nicht der große Geiſt, der Alte im Himmel, das unſichtbare Weſen, deſſen Verehrung aus der Verehrung der Naturkräfte entſpringt, wenn in den Völkern allmählich das Bewußtſein der Einheit dieſer Kräfte erwacht; er iſt vielmehr eine Perſon aus dem heroiſchen Zeitalter, ein Mann, der aus weiter Ferne gekommen, im Lande der Tamanaken und Kariben gelebt, ſymboliſche Zeichen in die Felſen gegraben hat und wieder verſchwunden iſt, weil er ſich zum Lande über dem Weltmeere, wo er früher gewohnt, wieder zurückwendet. Der Anthropomorphismus bei der Geſtaltung der Gottheit hat zwei gerade entgegengeſetzte Quellen, 1 und dieſer Gegenſatz ſcheint nicht ſowohl auf dem verſchiedenen Grade der Geiſtesbildung zu beruhen, als darauf, daß manche Völker von Natur mehr zur Myſtik neigen, wäh- rend andere unter der Herrſchaft der Sinne, der äußeren Eindrücke ſtehen. Bald läßt der Menſch die Gottheiten zur Erde niederſteigen und es über ſich nehmen, die Völker zu regieren und ihnen Geſetze zu geben, wie in den Mythen des Orients; bald, wie bei den Griechen und anderen Völkern
1Creuzer, Symbolik III, 89.
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ſie, dieſes „andere Ufer“ ſei Europa, und einer fragte Pater
Gili naiv, ob er dort drüben den großen Amalivaca ge-
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ſymboliſche Figuren gezeichnet.
Dieſe Vorſtellungen von einer großen Flut; das Paar, das
ſich auf einen Berggipfel flüchtet und Früchte der Mauritiapalme
hinter ſich wirft, um die Welt wieder zu bevölkern; dieſer
Nationalgott Amalivaca, der zu Waſſer aus fernem Lande
kommt, der Natur Geſetze vorſchreibt und die Völker zwingt,
ihr Wanderleben aufzugeben — alle dieſe Züge eines uralten
Glaubens verdienen alle Beachtung. Was die Tamanaken
und die Stämme, die mit dem Tamanakiſchen verwandte Spra-
chen haben, uns jetzt erzählen, iſt ihnen ohne Zweifel von
anderen Völkern überliefert, die vor ihnen dasſelbe Land be-
wohnt haben. Der Name Amalivaca iſt über einen Land-
ſtrich von mehr als 100 000 qkm verbreitet; er kommt mit
der Bedeutung Vater der Menſchen (unſer Urvater)
ſelbſt bei den karibiſchen Völkern vor, deren Sprache mit dem
Tamanakiſchen nur verwandt iſt wie das Deutſche mit dem
Griechiſchen, dem Perſiſchen und dem Sanskrit. Amalivaca
iſt urſprünglich nicht der große Geiſt, der Alte im
Himmel, das unſichtbare Weſen, deſſen Verehrung aus
der Verehrung der Naturkräfte entſpringt, wenn in den
Völkern allmählich das Bewußtſein der Einheit dieſer Kräfte
erwacht; er iſt vielmehr eine Perſon aus dem heroiſchen
Zeitalter, ein Mann, der aus weiter Ferne gekommen,
im Lande der Tamanaken und Kariben gelebt, ſymboliſche
Zeichen in die Felſen gegraben hat und wieder verſchwunden
iſt, weil er ſich zum Lande über dem Weltmeere, wo er früher
gewohnt, wieder zurückwendet. Der Anthropomorphismus bei
der Geſtaltung der Gottheit hat zwei gerade entgegengeſetzte
Quellen, 1 und dieſer Gegenſatz ſcheint nicht ſowohl auf dem
verſchiedenen Grade der Geiſtesbildung zu beruhen, als darauf,
daß manche Völker von Natur mehr zur Myſtik neigen, wäh-
rend andere unter der Herrſchaft der Sinne, der äußeren
Eindrücke ſtehen. Bald läßt der Menſch die Gottheiten zur
Erde niederſteigen und es über ſich nehmen, die Völker zu
regieren und ihnen Geſetze zu geben, wie in den Mythen des
Orients; bald, wie bei den Griechen und anderen Völkern
1 Creuzer, Symbolik III, 89.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/109>, abgerufen am 16.02.2025.
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