heißt der Schöpfer des Menschengeschlechtes (jedes Volk hält sich für den Urstamm der anderen Völker), kam in einer Barke an, als sich bei der großen Ueberschwemmung, welche die "Wasserzeit" 1 heißt, die Wellen des Ozeans mitten im Lande an den Bergen der Encaramada brachen. Alle Menschen, oder vielmehr alle Tamanaken, ertranken, mit Ausnahme eines Mannes und einer Frau, die sich auf einen Berg am Ufer des Asiveru, von den Spaniern Cuchivero genannt, flüchteten. Dieser Berg ist der Ararat der aramäischen oder semitischen Völker, der Tlaloc oder Colhuacan der Mexikaner. Amali- vaca fuhr in seiner Barke herum und grub die Bilder von Sonne und Mond auf den gemalten Fels (Tepumereme) an der Encamarada. Granitblöcke, die sich gegeneinander lehnen und eine Art Höhle bilden, heißen noch heute das Haus des großen Stammvaters der Tamanaken. Bei dieser Höhle auf den Ebenen von Maita zeigt man auch einen großen Stein, der, wie die Indianer sagen, ein musikalisches Instrument Amalivacas, seine Trommel war. Wir erwähnen bei dieser Gelegenheit, das dieser Heros einen Bruder, Vochi, hatte, der ihm zur Hand ging, als er der Erdoberfläche ihre jetzige Gestalt gab. Die beiden Brüder, so erzählen die Ta- manaken, wollten bei ihren eigenen Vorstellungen von Per- fektibilität den Orinoko zuerst so legen, daß man hinab und hinauf immer mit der Strömung fahren konnte. Sie ge- dachten damit den Menschen die Mühe des Ruderns zu er- sparen, wenn sie den Quellen der Flüsse zuführen; aber so mächtig diese Erneuerer der Welt waren, es wollte ihnen nie gelingen, dem Orinoko einen doppelten Fall zu geben, und sie mußten es aufgeben, eines so wunderlichen hydraulischen Problemes Meister zu werden. Amalivaca besaß Töchter, die große Neigung zum Umherziehen hatten; die Sage erzählt, ohne Zweifel im bildlichen Sinne, er habe ihnen die Beine zerschlagen, damit sie an Ort und Stelle bleiben und die Erde mit Tamanaken bevölkern müßten. Nachdem er in Ame- rika, diesseits des großen Wassers, alles in Ordnung ge- bracht, schiffte sich Amalivaca wieder ein und fuhr ans an- dere Ufer zurück an den Ort, von dem er gekommen. Seit die Eingeborenen Missionäre zu sich kommen sehen, denken
1 Es ist dies das Atonatiuh der Mexikaner, das vierte Zeitalter, die vierte Erneuerung der Welt.
heißt der Schöpfer des Menſchengeſchlechtes (jedes Volk hält ſich für den Urſtamm der anderen Völker), kam in einer Barke an, als ſich bei der großen Ueberſchwemmung, welche die „Waſſerzeit“ 1 heißt, die Wellen des Ozeans mitten im Lande an den Bergen der Encaramada brachen. Alle Menſchen, oder vielmehr alle Tamanaken, ertranken, mit Ausnahme eines Mannes und einer Frau, die ſich auf einen Berg am Ufer des Aſiveru, von den Spaniern Cuchivero genannt, flüchteten. Dieſer Berg iſt der Ararat der aramäiſchen oder ſemitiſchen Völker, der Tlaloc oder Colhuacan der Mexikaner. Amali- vaca fuhr in ſeiner Barke herum und grub die Bilder von Sonne und Mond auf den gemalten Fels (Tepumereme) an der Encamarada. Granitblöcke, die ſich gegeneinander lehnen und eine Art Höhle bilden, heißen noch heute das Haus des großen Stammvaters der Tamanaken. Bei dieſer Höhle auf den Ebenen von Maita zeigt man auch einen großen Stein, der, wie die Indianer ſagen, ein muſikaliſches Inſtrument Amalivacas, ſeine Trommel war. Wir erwähnen bei dieſer Gelegenheit, das dieſer Heros einen Bruder, Vochi, hatte, der ihm zur Hand ging, als er der Erdoberfläche ihre jetzige Geſtalt gab. Die beiden Brüder, ſo erzählen die Ta- manaken, wollten bei ihren eigenen Vorſtellungen von Per- fektibilität den Orinoko zuerſt ſo legen, daß man hinab und hinauf immer mit der Strömung fahren konnte. Sie ge- dachten damit den Menſchen die Mühe des Ruderns zu er- ſparen, wenn ſie den Quellen der Flüſſe zuführen; aber ſo mächtig dieſe Erneuerer der Welt waren, es wollte ihnen nie gelingen, dem Orinoko einen doppelten Fall zu geben, und ſie mußten es aufgeben, eines ſo wunderlichen hydrauliſchen Problemes Meiſter zu werden. Amalivaca beſaß Töchter, die große Neigung zum Umherziehen hatten; die Sage erzählt, ohne Zweifel im bildlichen Sinne, er habe ihnen die Beine zerſchlagen, damit ſie an Ort und Stelle bleiben und die Erde mit Tamanaken bevölkern müßten. Nachdem er in Ame- rika, diesſeits des großen Waſſers, alles in Ordnung ge- bracht, ſchiffte ſich Amalivaca wieder ein und fuhr ans an- dere Ufer zurück an den Ort, von dem er gekommen. Seit die Eingeborenen Miſſionäre zu ſich kommen ſehen, denken
1 Es iſt dies das Atonatiuh der Mexikaner, das vierte Zeitalter, die vierte Erneuerung der Welt.
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„Waſſerzeit“ 1 heißt, die Wellen des Ozeans mitten im Lande
an den Bergen der Encaramada brachen. Alle Menſchen,
oder vielmehr alle Tamanaken, ertranken, mit Ausnahme eines
Mannes und einer Frau, die ſich auf einen Berg am Ufer
des Aſiveru, von den Spaniern Cuchivero genannt, flüchteten.
Dieſer Berg iſt der Ararat der aramäiſchen oder ſemitiſchen
Völker, der Tlaloc oder Colhuacan der Mexikaner. Amali-
vaca fuhr in ſeiner Barke herum und grub die Bilder von
Sonne und Mond auf den gemalten Fels (Tepumereme)
an der Encamarada. Granitblöcke, die ſich gegeneinander
lehnen und eine Art Höhle bilden, heißen noch heute das
Haus des großen Stammvaters der Tamanaken. Bei dieſer
Höhle auf den Ebenen von Maita zeigt man auch einen
großen Stein, der, wie die Indianer ſagen, ein muſikaliſches
Inſtrument Amalivacas, ſeine Trommel war. Wir erwähnen
bei dieſer Gelegenheit, das dieſer Heros einen Bruder, Vochi,
hatte, der ihm zur Hand ging, als er der Erdoberfläche ihre
jetzige Geſtalt gab. Die beiden Brüder, ſo erzählen die Ta-
manaken, wollten bei ihren eigenen Vorſtellungen von Per-
fektibilität den Orinoko zuerſt ſo legen, daß man hinab und
hinauf immer mit der Strömung fahren konnte. Sie ge-
dachten damit den Menſchen die Mühe des Ruderns zu er-
ſparen, wenn ſie den Quellen der Flüſſe zuführen; aber ſo
mächtig dieſe Erneuerer der Welt waren, es wollte ihnen nie
gelingen, dem Orinoko einen doppelten Fall zu geben, und
ſie mußten es aufgeben, eines ſo wunderlichen hydrauliſchen
Problemes Meiſter zu werden. Amalivaca beſaß Töchter, die
große Neigung zum Umherziehen hatten; die Sage erzählt,
ohne Zweifel im bildlichen Sinne, er habe ihnen die Beine
zerſchlagen, damit ſie an Ort und Stelle bleiben und die
Erde mit Tamanaken bevölkern müßten. Nachdem er in Ame-
rika, diesſeits des großen Waſſers, alles in Ordnung ge-
bracht, ſchiffte ſich Amalivaca wieder ein und fuhr ans an-
dere Ufer zurück an den Ort, von dem er gekommen. Seit
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1 Es iſt dies das Atonatiuh der Mexikaner, das vierte
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/108>, abgerufen am 16.02.2025.
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